Mittwoch, 31. August 2016

Michel Butor: Der Zeitplan



„Donnerstag, 1. Mai
Die Lichter wurden zahlreicher.“ (Seite 7)

Beim diesjährigen Indiebook Day stolperte ich über diese Neuauflage von Michel Butors Roman. Der Autor war mir unbekannt, Cover und Klappentext sprachen mich aber sofort an. Erst nach der Lektüre machte ich mich über den Autor schlau und erfuhr, dass ich sein wohl populärstes Buch erwischt hatte, das exemplarisch für den Nouveau Roman als literarische Richtung steht.

Der Nouveau Roman entstand in Frankreich zwischen 1950 und 1970 und verzichtet beim Erzählen auf eine Handlungsorientierung. Figuren, Orte, das Geschehen werden nicht ausgedeutet, ausgeleuchtet sondern schlicht dargestellt. Den Lesern bleibt es überlassen, aus dem Spiel mit Formen und Zeiten Deutungen zu ziehen.

Im „Zeitplan“ reist ein junger Franzose in eine düstere, nordenglische Industriestadt, in der er ein Jahr lang in einer Firma arbeiten wird. Die Stadt ist ihm fremd, die Sprache muss er erst mühsam erlernen. Wie die grau verschmutzten Fassaden bleibt die ganze Atmosphäre der Stadt diffus, wie mit klebrigem Industriestaub verschmiert. Die Menschen erscheinen vor diesem Hintergrund wie Schatten und bleiben nahezu konturlos.

Der Text besteht aus den Tagebucheinträgen von Jaques Revel, dem jungen Franzosen. Mit ihnen versucht er, nachdem seine Zeit in der Stadt schon zur Hälfte vorbei ist, seine Ankunft und sein Leben hier zu rekonstruieren, während ihm sein erzähltes Hier und Jetzt zu engleiten droht. Er will sich erinnern, um seine Angst davor zu bezwingen, sich in dieser Stadt endgültig zu verlieren.

Schreibend versucht er mit seinen Erinnerungen die Gegenwart einzuholen. Je dichter er in seinen Tagebucheinträgen an die erzählerische Jetztzeit herankommt, um so verwobener werden die Zeitebenen. Es verschwimmt immer mehr, was vor Monaten, vor Wochen oder gerade eben erst passiert ist oder womöglich gleich passiert sein wird.

So verstrickt sich Revel in seiner Wahrnehmung der Stadt, seinen Gefühlen zu den wenigen Menschen, die er hier näher kennengelernt hat, und auch in etwas, das er für einen ungelösten Kriminalfall hällt.

Ich muss gestehen, dass die Lektüre ganz sicher keinen Spaß gemacht hat. Vermutlich entspricht dies aber auch genau der Intention dieses literarischen Experiments. Das Recherchieren im Nachgang zum Lesen des Romans hat einiges für mich aufgehellt und erklärt, was ich zunächst nur sehr diffus wahrgenommen hatte. Spannend war es in jedem Fall, mich erst auf den Text einzulassen, und dann erst Hintergründe zum Autor und seinem Werk herauszufinden.

Michel Butor gilt als letzter der Vertreter des Nouveau Roman. Er starb im Alter von 89 Jahren am 24. August 2016.

#lesesommer #roman #michelbutor #matthesundseitz #MSBVerlag #nouveauroman #literatur #lesen #bücher #bleston

Dienstag, 30. August 2016

Volker Handloik (Hrsg.): Leichtmetall. Comics in der DDR



Einen kleinen Schatz hab ich da geschenkt bekommen. Buchstäblich Undergroundiges aus einem untergegangenen Land, gesammelt und herausgegeben, kurz bevor es aus der Staatenwelt verschwand. Und mancher der 42 Namen sagt mir selbst heute, 26 Jahre später, noch etwas.

Ich ziehe mich dann mal für eine kleine Entdeckungsreise zurück. ^^

#lesesommer #comic #anthologie #ddr #samisdat #selbstverlag #Untergrund #underground #comix

Samstag, 27. August 2016

Paco Roca: Kopf in den Wolken



Ihr packt gerade eure Sachen für ein Picknick im Park, die Badetasche für den See oder ein paar Kleinigkeiten für den Garten zusammen, um diesen heißen Samstag im August zu genießen? Da hab ich doch etwas, was nicht viel Platz braucht und euch bestens unterhalten wird. ^^

Emilio wird von seinem Sohn in ein Altenheim gebracht. Hier, unter all diesen wunderlichen Alten soll er nun also seinen Lebensabend verbringen. Sein Zimmergenosse Miguel führt ihn durch das Heim und weiß von allen Bewohnern deren Eigenheiten und Macken vorzustellen.

Emilio ist sich sicher, dass er ganz bestimmt nichts mit all den Senilen und Dementen gemein hat ... bis er sich der Gewissheit stellen muss, dass er selbst an Alzheimer erkrankt ist.

Ok, das klingt jetzt doch erstmal sehr schwermütig. Paco Roca gelingt es aber, Emilios Geschichte mit zarter Leichtigkeit zu erzählen, die Schrulligkeiten darzustellen, ohne zu entblößen, und ein Schmunzeln zuzulassen. Altern, Krankheiten und letztlich auch der Tod gehören nun einmal zum Leben.

Roca schafft es, dass ich mich gern auf eine Auseinandersetzung damit eingelassen habe, ohne alles ganz trostlos empfinden zu müssen. Also genießt diesen Tag und lest diesen Comic. 

#lesesommer #comic #pacoroca #reproduktcomics #alzheimer #altwerdenwirvonallein

Freitag, 26. August 2016

Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran



"Als ich elf war, habe ich mein Schwein geschlachtet und bin zu den Dirnen gegangen." (Seite 9)

Passend zur brüllenden Hitze am diesem Augusttag gibt's heute einen ganz wunderhübschen Lektüretipp, der in jeden Picknickkorb passt. Und wenn ihr am Abend zurück seid, dann gibt's ja noch die nicht weniger gelungene Verfilmung. Viel Spaß! 

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Donnerstag, 25. August 2016

Jean-Michel Guenassia: Eine Liebe in Prag



„Bei den Kaplans aus Prag war man seit vielen Generationen Arzt.“ (Seite 9)

Besser als die Beschreibung auf dem Umschlag lässt es sich eigentlich kaum auf den Punkt bringen:
„Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Argwohn und Enttäuschung, von Überleben als Lebensprinzip. Vom Prag der Zwischenkriegszeit nach Paris über Algerien zurück ins Prag der Nachkriegswirren und zum Untergang des Sozialismus.“

Josef Kaplan ist ein Frauenheld, allerdings weniger aus eigenem Antrieb sondern eher, weil der begnadet Tango tanzende Arzt Frauen wie mit magischer Kraft anzieht. Seine große Schwäche ist, dass er Gesichter nur schwer wiedererkennen kann. Damit allein hätte mich das Buch ja schon so gut wie gewonnen.

Josefs Lebensweg zu verfolgen und über seine Schulter blickend mehr als ein halbes Jahrhundert europäische Geschichte vorbeiziehen zu sehen – da kann ich persönlich dann ja gar nicht mehr widerstehen. :)

Guenassia bewahrt als Erzähler eine angemessene Distanz zu seinen Figuren und schafft es zugleich, die verschiedenen und so unterschiedlichen Orte der Handlung atmosphärisch nachzuzeichnen. Beim Lesen konnte ich den Tabakduft in Pariser Jazzlokalen schnuppern, die flirrende Hitze Algeriens auf der Haut spüren, den Frost im verschneiten Tschechien über der Landschaft klirren hören.

Die Handlung entwickelt sich eher episodenhaft, wodurch eine angenehme Leichtigkeit entsteht, die vielen unter die Haut gehenden Momenten die sonst womöglich pathetische Schwere nimmt. Auch diesen zweiten Roman von Guenassia habe ich mit Begeisterung gelesen und wehmütig beendet. Ich bin gespannt auf weitere Werke.

Eindeutig eine Leseempfehlung. :)

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Dienstag, 23. August 2016

Nils Oskamp: Drei Steine



"'Drei Steine' erzählt die autobiografische Geschichte von Nils Oskamp, der in den achtziger Jahren in Dortmund-Dorstfeld Opfer rechter Gewalt wird: Als Schüler kämpft er um sein überleben, ohne dabei selbst zum Täter zu werden." (Umschlagtext)

Einige Rezensionen beschrieben den Comic als eher pädagogisch, Teiches und erzählerisch nicht gänzlich überzeugend. Mit dieser Ausgabe von der #AmadeuAntonioStiftung kann ich mir nun einen eigenen Eindruck verschaffen. Diese Ausgabe erschien bereits 2015. Die Buchhandelsausgabe von #panini von 2016 ist etwas umfangreicher und enthält die komplette Geschichte.

Dieses Projekt von Oskamp zielt natürlich auf Aufklärung. Unter www.dreisteine.com gibt es Begleitmaterial, um das Thema mithilfe des Comics in Schulen bearbeiten zu können. Hier gibt es auch Infos über laufende Ausstellungen zum Comic.

Und zu guter Letzt: Danke, lieber Peter Schaaff

#lesesommer #comic #nilsoskamp #geschichte #politik #dortmund #nonazis #comicsindieschulen

Montag, 22. August 2016

Frank Witzel: Blue Moon Baby



Na huch, fast hätte ich dieses Fundstück von "Kleine Verlage am großen Wannsee" vergessen. Hiermit sei also nochmal Frank Witzels Debutroman präsentiert!

#lesesommer #roman #frankwitzel #editionnautilus #indiebook #deutscherbuchpreis2015

Samstag, 20. August 2016

Donnerstag, 18. August 2016

Sebastian Junger: Der Sturm. Die wahre Geschichte von sechs Fischern in der Gewalt des Ozeans



„Georges Bank, 1896
An einem Mittwintertag vor der Küste von Massachusetts entdeckte die Mannschaft eines Makrelenschoners eine Flaschenpost.“ (Seite 13)

Natürlich kannte ich den Film „Der Sturm“ mit George Clooney, bevor mir die Vorlage für die Hollywood-Verfilmung in die Hände fiel. Die Story fand ich ok, die Bilder von einem Fischerboot inmitten eines Jahrhundertsturms auf hoher See echt beeindruckend und schaurig schön. Als ich dann Sebastian Jungers Buch las, bekam ich noch einmal Lust auf den Film. Allerdings kam ich nicht weit beim Anschauen. Die Story des Films wirkte auf einmal so unendlich verkitscht auf mich, dass ich nach kaum einem Drittel abschalten musste.

Aus dem Buch dagegen schlugen mir salzige Seeluft, Fischgestank, ratternde Dieselmotoren und  heulende Sturmböen entgegen. Das war wirklich beeindruckend!

Sebastian Junger hat keinen Roman geschrieben. Es ist eher ein Bericht, der Wissen über Fischerei und Seefahrt, Stürme und den Atlantik, authentische Erinnerungen und Aktenkundliches zu einem atmosphärisch dichten Text verwebt. Laut Klappentext des Verlages wurde Junger nach diesem Buch mit Hemingway verglichen – und Mitinhaber einer Bar sei er außerdem noch. Da braucht man ja nun echt nichts mehr hinzuzufügen.

Der Film wie auch der Untertitel des Buches verdecken, dass Jungers Text von weitaus mehr als der Geschichte der „Andrea Gail“ handelt. Er verwebt vielmehr eine ganze Reihe von dramatischen Entwicklungen, die sich während dieses Jahrhundertsturms 1991 ereigneten.

Zu guter Letzt muss ich unbedingt noch auf die außerordentlich schöne Aufmachung und Gestaltung dieser illustrierten Neuausgabe vom Ankerherz Verlag hinweisen. Bei diesem Buch stimmt für meinen Geschmack einfach alles. Das Softcover ist sorgfältig ausgewählt, Druck und Layout passen perfekt und die Illustrationen sind ein Augenschmaus. Ehrlich – genau deswegen und dafür lieben wir gedruckte Bücher!

#lesesommer #sebastianjunger #ankerherzverlag #hansbaltzer #andreagail #sturmwarnung #atlantik #fischfang #massachusetts #tanker #illustration #warumwirbücherlieben

Mittwoch, 17. August 2016

Paco Roca: Die Heimatlosen



"Anhand der Erinnerungen von Miguel Ruiz, einem spanischen Republikaner, rekonstruiert Paco Roca die bisher wenig bekannte Geschichte der spanischen Exil-Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, die in verschiedenen Ländern gegen den Faschismus kämpften - nur in ihrer eigenen Heimat konnten sie die Diktatur nicht beenden." (Klappentext vom Verlag)

Noch etwas von der Leseliste, was ich pauschal und blind empfehlen kann. ^^

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Samstag, 13. August 2016

Philipp Tingler: Fischtal



"Die letzten Tage von Westberlin sind angebrochen. Allerdings merkt davon niemand etwas, jedenfalls nicht in Zehlendorf." (Umschlagtext)

Gekauft. Und wehe, das macht nur halb so viel Spaß, wie die Beschreibung anklingen lässt. ^^

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Freitag, 12. August 2016

Stefan Dinter/ Christopher Tauber (Hrsg.): Die Toten. Zyklus I.2



Zombies, die durch nordamerikanische Gegend, Vorstädte und Metropolen ziehen? C'mon! Gruselig sind die erst in Bochum, Potsdam, Berlin, Bad Homburg oder in Nord-Brandenburg! ^^

Ein Schmankerl! Ich schwöre!


Bochum: Junge trifft unverhofft Mädchen. Sie ist zunächst abweisend. Es braucht, bis sie auftaut. Aber es gibt Hürden, die die beiden nehmen müssen, um sich besser kennenzulernen - achja, und draußen ist Zombieapokalypse.


Die Zeichnungen und die Story dieser ersten von fünf Episoden in diesem Band finde ich beeindruckend gut. Das gilt ebenso für alle weiteren Geschichten, auch wenn mir persönlich die Zeichnungen der vorletzten nicht ganz so sehr zusagen.

Grandios gut gelungen finde ich einmal mehr den Bogen von zarter, emotionaler Story bis hin zu herrlichem Trash - wie es sich für guten Zombiestoff gehört.

Vollkommen zurecht bekommen "Die Toten" mit Panini hoffentlich ordentlich viel Publikum. Dieses Projekt, in dessen Rahmen nun schon so etliche Erzähler und Zeichner glänzen konnten hat es einfach verdient!

#lesesommer #comic #stefandinter #christophertauber #zwerchfell #panini #untote #zombies

Mittwoch, 10. August 2016

Dale Peck: Schwarz und Weiss



Wenn ich jetzt Urlaub hätte und, in eine Decke gemummelt, auf Balkonien säße, könnte das die Lektüre meiner Wahl sein. Jaja - Konjunktivsommer. ^^

#lesesommer #roman #dalepeck #albinoverlag

Dienstag, 9. August 2016

Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie



"Das Aufkommen des Rechtspopulismus in Europa (und anderen Erdteilen) erklärt sich als Reaktion auf das Fehlen jeglicher Perspektive angesichts einer Welt, deren Grenzen und Grundlagen in Fluß geraten sind." (S. 7, Vorwort zum Vorwort von 2002)

Es gibt so Lektüren, an denen knuppert man richtig lange, verzweifelt zwischendurch und jedesmal, wenn man fast vorm Aufgeben ist, taucht ein nachvollziehbarer, fesselnder Gedanke auf, der sich auf das Hier und Heute beziehen lässt. Und das hallt nach - egal wie wenig man beim Lesen zu verstehen glaubt. Das beschreibt in etwa meine Begegnung mit Becks dreibändigem Werk, dessen erstes Buch ich vor einiger Zeit abschließen konnte.


Zu gern würde ich etwas fürchterlich elaboriertes und schlaues über das Buch sagen, über die Gedanken, die Beck hier ausgebreitet hat - aber schon macht sich das gleiche Gefühl der Überforderung breit wie so oft beim Lesen dieser Seiten.

Was ich aber sagen kann: Während ich verwundert, verärgert und auch gern verwirrt zur Kenntnis nehme, in welchem Tempo und mit welchen Richtungen die Welt um mich herum sich entwickelt, so oft taucht der Gedanke auf, dass mir dieses und jenes doch schon hier als formulierte Analyse oder Idee über den Weg gelaufen ist. Das ist mehr als ein erfreut zur Kenntnis genommenes Wiedererkennen und noch weit jenseits des Gefühls, nun verstanden zu haben. Aber es hallt nach.

Wer keine Angst vor soziologischen Texten hat, sich mit der globalisierten Welt auseinandersetzt und mit wachen und neugierigen Augen auf die Zeit schaut, in der wir gerade leben, dem sei die Lektüre gern empfohlen. Just saying.

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Sonntag, 7. August 2016