Montag, 31. August 2020

Sascha Reh: Großes Kino



"Der Neuköllner Sozialarbeiter Carsten Wuppke hat gerade Schwierigkeiten mit dem Gesetz. Und dann verdonnert ihn der Clanchef Ali al-Safa, genannt 'der Chinese', auch noch zu einer Gefälligkeit: Wuppke muss ein ein krummes Immobiliengeschäft auf Sylt zurechtbiegen, damit dem Naturschutz und dem Bürgermeisterwahlkampf in Konflikt steht. Mit Konflikten kennt er sich ja aus, denkt Wuppke. Bis er auf die chaotische Familie des obersten Naturschützers und Bürgermeisterkandidaten trifft. Als ihm der Chinese dann auch noch seine Leute auf den Hals hetzt, wird es brenzlig." (Umschlagtext)

Mit "Gegen die Zeit" hat mich Sascha Reh ja als Leser gewonnen. Ich bin also mehr als gespannt auf den frisch erschienen Roman. Großes Kino erwarte ich natürlich mindestens. 🤓

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Samstag, 29. August 2020

Katrin Henkelmann/ Christian Jäckel/ Andreas Stahl/ Niklas Wünsch/ Benedikt Zopes: Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters


 "Weltweit feiern Populisten Erfolge. Viele Menschen rebellieren und unterwerfen sich zugleich irrationalen Autoritäten. Woher aber stammt dieses Bedürfnis? Die Suche nach Antworten führt zur Theorie des autoritären Charakters." (Umschlagtext)

"Zahlreiche Zeitdiagnosen kreisen um den gemeinhin unerwarteten Aufstieg autoritärer Parteien und Bewegungen, der gegenwärtig weltweit zu beobachten ist. Knüpft man indes an die Erkenntnisse der frühen Frankfurter Schule zum autoritären Charakter an, so überrascht die Attraktivität der neuen "falschen Propheten" keineswegs. In rund 20 Aufsätzen diskutieren die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes das Erklärungspotenzial einer psychoanalytisch informierten kritischen Theorie des Autoritarismus angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen." (Verlagstext)

Wie ich heute nur auf so eine Auswahl für den Buchpost komme? 🤫

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Mittwoch, 26. August 2020

Katja Kipping: Neue linke Mehrheiten. Eine Einladung



"Was kommt nach der Krise des Neoliberalismus? Die Situation ist offen. Wir können Zeugen einer fortschreitenden Eskalation bis hin zu Klimakollaps und Barbarei werden. Oder wir gehen die Ursachen der Krisen an und stellen dem entfesselt Markt eine neue Ökonomie des Gemeinsamen entgegen.

Was kommt nach Angela Merkel und GroKo? Auch hier ist die Situation offen. Möglich sind neue Gesichter, die weiter den alten Wegen folgen und damit die Krisen verschärfen. Möglich sind aber auch neue linke Mehrheiten und somit eine Alternative, die Ernst macht mit einer Politik der sozialen Sicherheit, des Friedens und des Klimaschutzes - damit wir alle eine Zukunft haben." (Umschlagtext)

Also ich hoffe immer noch und nicht weniger als je zuvor auf tatsächlich zündende Visionen für unser Morgen. Ich bin gespannt, ob Katja Kipping dem etwas hinzufügen kann.

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Simon Schwartz: Ikon (Deluxe Ausgabe)


 

„Ahh, endlich wachst du auf, mein Sohn!“ (Seite 17)

Für alle plötzlich so zahlreich auftauchenden Freunde „alternativer Fakten“ wäre diese Geschichte, die Simon Schwartz hier erzählt, ein wirklich gefundenes Fressen. Zahlreich würden selbsternannte Expert*innen auftreten, die selbstverständlich nur Fragen stellten, ganz ohne sehr dunkle Machenschaften böser und gar nicht so geheimer Logen etc. nebenher ins Gespräch zu bringen. Aber früher lief das alles etwas beschaulicher.

Die Russische Revolution stürzte 1917 das Regime des Zaren und brachte ihn mit seiner Familie in Gefangenschaft. Begleitet wurde die Zarenfamilie dabei unter anderem von ihrem Leibarzt und dessen Sohn Gleb Botkin. Gleb wuchs gemeinsam mit den Zarenkindern auf. Als die Zarenfamilie und auch Glebs Vater 1918 ermordet wurde, konnte Gleb fliehen. Er lebte schließlich in den USA.

Schon kurz nach dem Tod der Zarenfamilie kursierten offenbar immer mal wieder Gerüchte, dass sie hätten fliehen können, einzelne Familienmitglieder hätten überlebt. Besonders legendenbildend waren dabei offenbar Spekulationen über die jüngste Zarentochter Anastasia.

In Berlin wollte dann schließlich eine Krankenschwester einer Nervenheilanstalt die Zarentochter Anastasia in einer Patientin erkannt haben. Es gab Presse, adelige Expert*innen und Verwandte, von denen nur eine bereit war, Anastasia wiederzuerkennen. Die Patientin war dann irgendwann bereit zuzugeben, dass sie die Zarentochter sei. In der Folge fanden sich etliche Erklärungen, warum sie kein Russisch spreche, sich im Grunde auch an nicht viel erinnern könne. Aber die Legende war in der Welt.

Gleb Botkin lernt die vermeintliche Anastasia in den USA kennen, wo sie von der einzigen sie anerkennenden Verwandten vermögenden Exilrussen vorgeführt wird. Er, der mit Anastasia aufwuchs und sie gut kannte, will sie wiedererkennen. Und so konnte die Legende weiterleben – weil sich eben immer wieder jemand fand, der sie glauben wollte. Mal aus diesen, mal aus anderen Gründen.

Erst 2007 klären DNA-Analysen letztlich, dass die gesamte Zarenfamilie 1918 ermordet wurde. Die vorgebliche Anastasia war eine polnischstämmige Fabrikarbeiterin, die wohl schon länger als psychisch krank galt. Dass sie keine Nachfahrin der Romanows war, wurde schon bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ebenfalls durch eine DNA-Analyse nachgewiesen.

Ikonen kennen wir als Heiligenbilder, wie sie insbesondere in der Russisch-Orthodoxen Kirche eine lange Tradition haben. Zugleich ist ikonisch ein Zeichen, dass eine wahrnehmbare Ähnlichkeit zu dem aufweist, was es bezeichnet. Aus der Legende um die Zarentochter Anastasia und dem Zauber der Ähnlichkeit, die alternativen Fakten hinreichend Raum ermöglicht, webt Simon Schwartz seine Geschichte.

Die Erzählfäden um die Zarenfamilie, Glebs Leben nach seiner Flucht und eben die Geschichte der angeblichen Anastasia spinnt Schwartz ausgesprochen geschickt zu einem Garn, von dem ich mich beim Lesen gern einwickeln ließ. Zeit- und Ortswechsel bauten hinreichend Spannung auf, auch wenn das Ergebnis der Handlung in diesem Fall ja bekannt ist. Dass sich in kleinen Zwischenkapiteln auch noch etwas über Ikonenmalerei in Russland lernen lässt, rundet das Gesamtwerk ebenso ab wie der kleine Anhang mit historischen Erläuterungen und Fotos.

Der Zeichenstil dieses Comics harmoniert für meinen Geschmack perfekt mit der erzählten Geschichte. Und dass die erste Sprechblase auf Seite 17 erscheint und zuvor schon soviel erzählt wurde, spricht dafür, dass hier ein Zeichner am Werk war, der sein Fach bestens versteht.

Insbesondere in der Deluxe Ausgabe haben Zeichner und Verlag dann noch richtig zugeschlagen und sich kein Stück lumpen lassen. Diese Ausgabe hat die Bezeichnung Deluxe mehr als verdient.

Kurz und gut: Ein Comic, der auch ganz ohne das Label Graphic Novel einfach so richtig, richtig gut ist. Lesen!

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Montag, 24. August 2020

Renée Hansen/ Stephanie Schmidt: Konzeptionspraxis. Eine Einführung für PR- und Kommunikationsfachleute. Mit einleuchtenden Betrachtungen über den Gartenzwerg


 "Konzeption wird gerne als das Herzstück der PR- und Kommunikationsarbeit bezeichnet. Doch wie wird aus einer Faktenlage eine Analyse, wie aus einem spröden Briefing eine kommunikative Aufgabe? Wie entwickelt man die viel zitierte Strategie, und was ist überhaupt eine kommunikative Positionierung? [...]" (Umschlagtext)

Ach, wie oft hab ich Debatten über Strategien und Konzepte erlebt mit dem schalen Beigeschmack, den die Vermutung verursacht, dass die Lautesten womöglich von Sach- und Methodenkenntnis so gänzlich befreit sind? Das kennt ihr doch auch? 😂🤣

Also mal etwas Weiterbildung und Ideensammeln, die sich in Bildungsformaten dann unterbringen lesen. Voll subversiv und so. 😎

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Donnerstag, 20. August 2020

Madame Nielsen: Der endlose Sommer



„Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Der scheue Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, aber nie einen Mann berühren, sich nie mit einem Mann ausziehen und Haut an Haut reiben würde, nie im Leben, wie erregend verworfen die Vorstellung auch sei. Der scheue Junge, dieser hübsche, scheue Junge mit den feinen Zügen, den großen Augen und der großen Angst, vor dem Krieg und vor Krankheiten, vor dem Körper, dem Geschlecht und dem Tod.“ (Seite 5)

 

(Übersetzung: Hannes Langendörfer)

 

Ich weiß gar nicht genau zu sagen, wann ihre Stimme das erste Mal mein Ohr erreichte, sich ins Herz vorschlängelte und darin festkrallte. In jedem Fall gab es noch Kassettendecks in Autoradios. In meiner Kassettensammlung fand sich auch eine Konzertaufnahme, die mir jemand kopiert hatte. Georgette Dee und ihr Pianist Terry Truck live.

 

Diese Kassette habe ich viele Male gehört, während ich unterwegs war – vorzugsweise nachts. Mal mit inbrünstig guter Laune, mal unendlich einsam und mit übervollem Herzen. Während ihre Stimme den Wagen mit ihrem Timbre erfüllte und die Innenluft vibrieren ließ, lachte und weinte ich und sang mit, so laut und falsch ich nur konnte.

 

Später, da war mir Georgettes Stimme schon eine innige Freundin geworden, erlebte ich sie endlich selbst auf der Bühne. Zusammen mit drei anderen Diven – im allerbesten Sinne – spielte sie das Programm „Diva gut“ im Schmidts Tivoli im Hamburger St. Pauli. Vertüllt barock war alles an diesem Abend. Auf der Bühne hingen lange, fließende Samtbahnen in dunklem Rot herunter. Ein Tisch, Stühle, das Piano mit Terry Truck an den Tasten (zumindest glaube ich, mich so zu erinnern) – und dann sie. In der einen Hand ein Glas mit ganz sicher Hochprozentigem, in der anderen das Mikro und eine Kippe zwischen die Finger geklemmt. Ihr Kleid muss aus dem gleichen Stoff gewesen sein wie der Bühnenbehang und umfloss ebenso in langen Bahnen ihren Körper.

 

Das Programm bestand aus Chansons, interpretierten wie eigenen, einem herrlichen und unendlich stilvollen Besäufnis und nicht weniger Rauchen. Dazu all die kleinen Geschichten, deren Art ich von der Kassette schon kannte, hier zugleich als Gespräch zwischen den vieren, die sich auch mit ihren Liedern abwechselten.

 

Sollte ich erklären, wovon die Texte und die Lieder handelten, könnte ich nur sagen: von allem! Und von der Liebe – in all ihren Farben und Schattierungen.

 

In den Jahren seither konnte ich viele Konzerte von Georgette Dee erleben. Zahlreichen Freunden habe ich gnadenlos Lieder in voller Lautstärke vorgespielt, die mich so tief berührten, dass ich es nur oberflächlich an diesem und jenem festmachen konnte. Nie konnte ich verstehen, wenn mit entgegnet wurde, dass sei wunderbar, aber auch nur melancholisch. Ja, aber eben immer von einer tiefen inneren Stärke getragen, die mich am Ende immer befreit auflachen ließ, war meine Antwort.

 

Ein Konzert ist mir noch in besonderer Erinnerung. Ich lebte noch in Hamburg und hatte für eine bevorstehende Geburtstags-Motto-Party einen fantastischen 20er-Jahre-Anzug bei einem Theaterverleih gefunden. Dicker, fester blauer Stoff mit weißen Streifen, ein passendes Hemd mit Stehkragen dazu, eine mafiös breite rote Krawatte, Einstecktuch sowieso, ein passender Hut – und natürlich Gamaschen und ein Gehstock. Am Nachmittag vor dem Konzert probierte ich die Ausstattung an und war so verliebt, dass ich sie bis zum Konzert nicht mehr auszog. Vorm Schmidts Tivoli – mal wieder – war ich dann umringt von einer herrlichen Mischung aus Jung und Alt, Bunt und Bieder, und in dieser federleichten Stimmung war kein Platz für komische Seitenblicke. Abgesehen davon, dass ich bei Weitem nicht der bunteste Vogel im Publikum war. Das Programm an diesem Abend war durchsetzt mit Seemannsliedern, die schon weit vor der Zugabe ein Rollen und Schunkeln, glückliche und melancholisch-hoffnungsvoll blitzende Tränen in die ??? zauberten. Dieses Gefühl, am Ende mit all diesen zu einem Ganzen verwobenen Leuten auf Tischen und Stühlen zu stehen, uns im Takt zu wiegen, inbrünstig wie der beste jemals auftretende Seemannschor mit ihr zu singen – das Bild verliere ich hoffentlich nie wieder.

 

Ich kann diese Wirkung nur so erklären und habe das schon viele, viele Male getan: In drei Stunden mit Georgette Dee auf der Bühne werden alle deine Fragen ans Universum beantwortet, jede Unsicherheit wandelt sich in Stärke.

 

Kurz und gut: Madame Nielsen lesen ist wie Georgette Dee hören. Lesen!!

 

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