Montag, 7. Juni 2021

Steffen Georg Beitz: In dieser Minute


„Sie hatten alle Lichter gelöscht, um durch die Giebelfenster das Leuchten besser sehen zu können, das von der Welt da draußen ausging.“ (Seite 7)

Die Welt da draußen ist in diesem Fall Paris. Und sie, das sind Dirk und Rahim, zwei junge Männer, die sich quasi auf den ersten Blick ineinander verliebt haben. Aber es ist, wie es so schön heißt, kompliziert.

Dirk hat sich als Gärtner in Düsseldorf selbständig gemacht und hat ein übervolles Herz, dafür aber keine Worte, um sich anderen zu öffnen. Anstatt zu studieren geht er nach der Schule in eine Lehre, weil für ihn klar ist, dass Pflanzen und vor allem das Anlegen und Pflegen von Gärten dem Gestalten einer ganzen Welt gleichkommt. Was sollte man anderes wollen? Wir dürfen miterleben, wie er die ersten vier Privatgärten als Aufträge in seine Obhut übernimmt. Und die Besitzer:innen könnten unterschiedlicher nicht sein – ganz wie die Gärten selbst.

In Paris dagegen lebt der Student Rahim in einer multikulturellen WG. Er stammt aus dem Iran, von wo er mit seiner Familie flüchten musste. Die Eltern und auch seine Tante konnten in dem fremden Land beruflich Fuß fassen. Emotional ist das schon schwieriger, weil Rahims Bruder im Heimatland blieb, wo er als Gewerkschafter vom Regime in ein berüchtigtes Gefängnis gesteckt wurde. Das Schamgefühl derer, die es herausgeschafft haben, belastet die Familie und ihre Beziehungen zueinander schwer. Rahims Homosexualität macht es auch nicht leichter.

In einem Kölner Club lernen Dirk und Rahim sich kennen. Es muss Liebe auf den ersten Blick sein. Denn eine Woche später fährt Dirk zum ersten von sehr vielen Malen übers Wochenende nach Paris. Diese Reise wird sein kommendes Jahr bestimmen, den Zeitraum, von dem der Roman erzählt.

So wortkarg Dirk ist, so sehr sprudelt Rahim über vor lauter Leben, was Dirk unglaublich fasziniert und mitreißt. Doch genau dann, wenn es um Rahims Leben, seine Familie, den Iran und seinen Bruder geht, dreht sich das Ganze um. Dirk sieht es als Preis für ihre Liebe und versucht sich zunächst damit zu arrangieren. Aber als der Vater sich einmischt, den Abbruch der Liebe zu Dirk verlangt und Rahim mit einer Cousine verheiraten will, da muss Dirk erkennen, dass auch er Worte finden muss, will er sich dem nicht kampflos ergeben.

In die Geschichte eingewoben sind immer wieder Verweise darauf, was sich zeitgleich zu diesem kleinen Kosmos, der um Dirk, seine Gärten und Rahim kreist, in der Welt ereignet. Es sind Zeitungsmeldungen, die uns, wenn sie denn überhaupt eine Schlagzeile wert sind, innehalten lassen müssten, vor Schock und Scham. Eindringlich empfand ich den Hinweis auf das Bild zweier Jugendlicher aus dem Iran, kurz vor ihrer Hinrichtung dafür, dass sie schwul sind und sich lieben. Die Brutalität des Ganzen wird im Bild ins schier Unendliche gesteigert, weil sie jung sind, die Unschuld ihrer Liebe sich auf ihren noch bartlosen Gesichtern geradezu widerspiegelt, während über ihnen der Henkerstrick schwebt, von einem Bagger hochgezogen. Ich erinnere mich zu gut an dieses Foto und den Schock, den es auch in mir damals ausgelöst hat. Was tun Menschen nur einander an!

Soweit die Story, die ich durchaus gern gelesen habe. Ich möchte aber auch noch ein paar Worte zum Erzählerischen dieses Debutromans verlieren – auch als Dank an und Respekt für den Autor, der mich zum Lesen eingeladen hatte.

Thematisch und erzählerisch hat sich der ehemalige Journalist (wenn ich das der Biografie richtig entnommen habe) ein dickes Brett vorgenommen. Eine zarte und nicht unkomplizierte Liebesgeschichte zweier junger Männer zu erzählen und sie zugleich in Relation zu den immer wieder grausigen Momenten, wie sie ohne Unterlass und überall auf der Welt geschehen, das ist wahrlich kein leichtes Unterfangen.

Dies ist auch die erste erzählerische Kluft, die sich für mich auftat. Die eingestreuten kurzen Kapitel, die auf nicht mehr als ein oder zwei Seiten das Schicksal ganz verschiedener Menschen zu fassen vermögen, finde ich überaus gelungen erzählt. Sie sind prägnant, von ausdrucksstarker Kürze und Wirkung. Nicht ganz so gelungen empfand ich die in den Haupterzählfluss eingeflochtenen Meldungen, die das „in dieser Minute“ des Titels – also zeitgleich zur Handlung – aufgreifen. Bei aller Sensibilität Dirks für diese Meldungen fügen sie sich nicht organisch in die Handlung und auch nicht in das Handeln Dirks ein. Womöglich entstand dieser Eindruck für mich auch, weil dieses Innen und Außen erzählerisch nicht in einen Rahmen gebracht wird. Die Erkenntnis, dass immer auch zeitgleich zu unserem Leben etwas Schlimmes auf der Welt passiert, ist nicht so tief geschürft. Spannend wäre hier der Versuch einer erzählerischen Lösung gewesen, wie sich dies aushalten lässt, ohne auf das eigene Glück zu verzichten.

Eine zweite Kluft empfand ich zwischen den Momenten, in denen Dirks Gärten und sein Wirken in ihnen im Mittelpunkt steht, und denen, in denen die Charaktere handeln (müssten), beziehungsweise beim Fassen ihrer Beziehungen zueinander. In die Gärten konnte mich der Autor wirklich gut entführen. Diese Szenen waren für mich die stärksten im Buch. Zur Beschreibung der Beziehungen wiederum, der geteilten Momente, konnte ich keine rechte Verbindung aufbauen. Zu sehr blieben mir diese Beschreibungen in vorhersehbaren Formulierungen gefangen, fast als wäre der Autor deutlich freier, unbefangener gewesen bei der Schilderung der Gärten.

Immer wieder fühlte ich mich an den klassischen Hinweis „show don´t tell“ erinnert. Die Erzählstimme berichtet das Handeln Figuren und erklärt es auch immer wieder und nimmt ihnen damit die Möglichkeit, durch ihr Handeln selbst zu wirken und Wirkung zu erzielen. Diese Hürde sorgt womöglich auch dafür, dass ich das Gefühl hatte, über Dirk, Minh – einen der Mitbewohner von Rahim, Rahims Tante und Dirks Auftraggeber:innen mehr erfahren zu haben als über die eigentlich zweite Hauptfigur Rahim. Der kommt für meinen Geschmack deutlich zu kurz.

Eine weitere Auswirkung könnte sein, dass die Dialoge recht zögerlich wirken. Hier spricht deutlich mehr der Autor als die Figuren, glaube ich.

Ich könnte mir vorstellen, weil mir das auch bei anderen Autor:innen aufgefallen ist, dass journalistisches Schreiben sehr prägend für den individuellen Erzählton, die Erzählhaltung ist. Für eine Reportage zum Beispiel dürfte die Annäherung an die Charaktere deutlich anders funktionieren als im Literarischen.

Bevor sich das alles aber zu sehr nach einem Verriss anhört, der es gar nicht sein soll, will ich noch Folgendes deutlich festgehalten wissen. Schreiben und erzählen kann Steffen Georg Beitz. Es stecken eine Menge wirklich guter Beobachtungen und Ideen in diesem Roman, dessen Lektüre durchaus zu genießen ist. Was noch fehlt, ist eventuell ein erzählerisches Freischwimmen, wenn ich das mal so formulieren darf, ohne dass es zu großkotzig klingt.

Kurz und gut: Beitz legt sich mit seinem Romandebut die Hürde ordentlich hoch. Und er erzählt hoffentlich noch weitere Geschichten!

Ein ausdrückliches danke noch einmal an den Autor für das Rezensionsexemplar! 😉

#lesefrühling #roman #steffengeorgbeitz #tredition #selfpublisher #liebe #gesellschaft #weltschmerz #natur #düsseldorf #paris #gaylove #lesen #leselust #lesenswert #bücher #indiebook #literatur

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen