Sonntag, 6. Oktober 2019

JG Ballard: Millennium People


Übersetzung: Jan Bender
„Eine kleine Revolution war im Gange, so bescheiden und manierlich, dass nahezu niemand davon Kenntnis genommen hatte.“ (Seite 5)

Während der renommierte Psychologe David Markham sich auf seinen Besuchen in Chelsea Marina, einer biederen Mittelklassesiedlung in London, quasi auf eine Reise in sein persönliches Herz der Finsternis begibt, habe ich irgendwie die ganze Zeit das neue Viertel voller Eigentumswohnungen mit Privatstraße und Spielplatz „Nur für Anwohner“ vor Augen. Aber vielleicht doch lieber von vorn. ;)

David Markham also ist die Hauptfigur und die Erzählstimme dieses Romans von 2003. Bei einem sinnlosen Bombenattentat auf den Londoner Flughafen kommt seine Ex-Frau ums Leben und damit für David eine Menge ins Rollen. Nicht nur ihr Tod lässt ihn nicht los, sondern auch nicht die Frage, wieso sie sterben musste. Es findet sich in all dem Chaos findet sich nur ein nicht weiter einzuordnender Flyer einer angeblichen Gruppierung, die gegen das Fliegen als Konsumhaltung protestiert.

Die Polizei tappt im Dunkeln, und Markham wird angetrieben von einem offenbar tiefsitzenden Gefühl, dass irgendwas mit seinem Leben nicht mehr stimmt, weil anscheinend alles stimmt. Seine von innerer Unruhe angetriebene Suche nach den Tätern verbindet sich mit dem Interesse der Behörden, zu deren Spitzel er eher ungewollt avanciert. Mehrere Akte der Revolte, die sich offenbar aus der Mitte der Gesellschaft speisen ziehen seine und die behördliche Aufmerksamkeit auf sich. Markham mischt sich unter die Revoltierenden der Mittelklasse und landet so nicht nur kurzzeitig vor Gericht sondern eben auch in Chelsea Marina. Und schon sehe ich wieder das Viertel in meiner unmittelbaren Umgebung vor mir.

Solide Eigenheime, ordentliche Straßen, eine gesittete und gut situierte Nachbarschaft – das ist Chelsea Marina. Der Zugang wird geregelt, der Wohlstand ist das, was den Leuten hier zusteht. Ärzte, Akademiker – Mittelklasse eben. Doch etwas gerät aus den Fugen, ist schon wackelig geworden. Die eigenen Lebensentwürfe und deren Realität scheinen auseinander zu driften. Kosten steigen, die Jobs sind nicht nur gut bezahlt, sondern eben auch die Bedingung, um sich zugehörig fühlen zu können. Zugleich fühlen sich die Leute immer stärker beschränkt in ihrer Entwicklung; sie wähnen sich mehr und mehr als das neue Proletariat.

Gute Ausbildung, gute Jobs, gut genug bezahlt, um sich einen gehobenen Lebensstandard leisten zu können, hinter den es aber auch nicht mehr zurückfallen darf, Gehälter, die immerhin Kredite für Eigentumswohnungen zulassen. Bei all dem steigt aber das Gefühl, sich in einem Korsett eingeschnürt wiederzufinden, dass den eigenen Erwartungen an das Leben immer mehr die Luft raubt. So stehen dann da Schilder wie „Privatstraße“, „Privatspielplatz! Nur für Anwohner“ – nur eine Schranke fehlt noch. Ja, damit bin ich wieder bei dem neuen Viertel in meiner Umgebung gelandet. ^^

Also wieder zurück zum Buch ;): Der Psychologe findet tatsächlich Zugang zu einer Gruppe von Leuten, die die Revolte des Mittelstands in Chelsea Marina anzustacheln scheinen, aber auch in weitergehende Aktionen verstrickt sind. Immer mehr verschwimmen die Motive dieser Leute und der eigene Antrieb Markhams. Indem wir seine Schilderungen lesen, seinen Beweggründen lauschen, sich mitreißen zu lassen, werfen wir einen ernüchternden Blick ins Herz dieser Millennium People, die doch fast alles zu haben scheinen, aber dennoch aufgewühlt werden von einer tiefsitzenden Unzufriedenheit, von Belanglosigkeiten, enttäuschten Erwartungen, die sie selbst vermutlich nicht formulieren könnten.

Angestachelt proben sie also den Aufstand, bis Chelsea Marina tatsächlich abgeriegelt wird. Sie kündigen ihre Jobs, die Straßen verwahrlosen, einige klauen Essbares, noch ohne Not, selbst Barrikaden werden gebaut. Es geht um etwas. Um alles. Und sie fühlen sich lebendig. Endlich. David Markham selbst führt uns den Zwiespalt vor, hingerissen zu sein von der Energie gemeinsamer Sprechchöre und der gleichzeitigen Angst vor der Grenzüberschreitung von der Revolte hin zu offener Gewalt. Eindrücklich ist auch das Bild, wie Familien, die zuvor aus dem Viertel geflüchtet sind, als die Revolte zu viel vom eigenen Wohlleben zu tangieren drohte – und natürlich wegen der Kinder – um nach einer Zeit in netten Cottages in der Umgebung dann eben doch in einer zivilisierten Karawane wieder zurückzukehren. Von der Revolte wird wohl nur die Erinnerung bleiben.

JG Ballard zerlegt die Revolte scheibchenweise und akribisch. Die Hauptfigur muss dabei gar nicht sonderlich sympathisch wirken. Das Wiederkennen dieses gesellschaftlichen Zustandes ist erschütternd genug. Finden sich hier Gründe dafür, wie merkwürdig sich unsere Welt entwickelt? Weil merkwürdige Gestalten zu Staatenlenkern werden und die öffentliche Debatte ihre Volten auch noch ernstnehmen und ernsthaft kommentieren muss? Weil Wohlstand nicht mehr vor dem Gefühl der Perspektivlosigkeit schützt und nur noch der Abschottung und Sicherung der eigenen Position dient? Weil Unzufriedenheit der eigenen Erwartungen zum Rückzug aus der Gesellschaft führt und dazu, eine Revolte gegen die eigenen Interessen als letzten Ausweg hin zu einem lebendigeren Leben erscheint?

Kurz und gut: Dieser Roman ist literarisch bestens gelungen und hochpolitisch zugleich. Lesen!

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