(Übersetzung:
Stephan Johann Kleiner)
„Die elfte
Wohnung hatte nur einen einzigen Schrank, aber es gab eine gläserne Schiebetür,
die auf einen kleinen Balkon führte, von dem aus er einen Mann im Haus
gegenüber sehen konnte, der nur mit T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet im
Freien saß und eine Zigarette rauchte, obwohl es schon Oktober war.“ (Seite 11)
Ich muss die
Reihe meiner Messeausbeuten mal kurz unterbrechen und dieses kleine Büchlein
mit gerade einmal 950 Seiten dazwischenschieben. Mein Intermezzo in Sachen antizyklisches
Lesen. 😊
Ich kann
mich noch gut erinnern, dass mir dieses Buch eine Zeitlang nun wirklich überall
über den Weg gelaufen ist. Wie so oft weckte das meinen Trotz, in jedem Fall
das Taschenbuch abzuwarten und dieses dann auch noch einmal so lange
liegenzulassen, bis ich wirklich dazu greifen mochte. Jetzt kann ich also
mitreden. 😊
Gleich vorneweg
kann ich festhalten: Ja, ihr hattet ja alle recht, die ihr das Buch gepriesen
und gelobt habt. Es ist wirklich ein grandios gut geschriebenes Werk, eine
Geschichte mit Sogwirkung und emotional packend obendrein.
Der
Umschlagtext behauptet, es sei die Geschichte von vier Freunden. Das stimmt für
mich nicht so ganz. Trotz aller Perspektiv- und Zeitenwechsel ist Jude St.
Francis die unangefochtene Hauptfigur. Der Freundeskreis, den wir hier vom
College über mehrere Jahrzehnte begleiten können, dreht sich, mal enger, mal
schneller, mal weiter und gemächlicher aber eben immer um Jude. Letztlich ist
er mit seiner Geschichte der Fixpunkt, auf den alle und alles irgendwie immer
ausgerichtet ist.
Dabei ist
Jude auch zugleich der Zerbrechlichste und auch Stärkste der vier. Die wenigen
Jahre seines Lebens, bevor sich die Vier das erste Mal begegnen, bleiben den
Freunden aber auch uns Leser:innen lange verborgen. Nur zaghaft und widerspenstig
schält sich Schicht um Schicht ab, bevor sich das ganze Ausmaß an Leid und Drama
erkennen lässt.
Dieses sich
Häuten der Vergangenheit präsentiert uns Yanagihara zwar mit einer Sprache, einem
erzählerischen Rhythmus, der sich bestens verschlingen lässt. Aber so, wie Jude
immer wieder zunächst durch neue Höllen gehen muss, bevor er bereit ist, eine weitere
Enthüllung hinzunehmen und noch eine und noch eine. So lässt die Autorin auch
uns Lesende gekonnt mitleiden, gerade weil alles so lange so schemenhaft bleibt
und sich jedes Mal als noch grausamer entpuppt als befürchtet.
Liebe und Freundschaft
trotzen diesem eigentlich trostlosen Setting immer wieder Lichtmomente ab, in
denen auch ich gegen jede düstere Ahnung auf ein Happy End oder wenigstens
einen Hauch davon hoffte. Das über eine solche Strecke aufrecht zu erhalten,
ist eine große literarische Leistung, die sicher nicht genug gewürdigt werden
kann.
Mit der
besten Bücherfrau von allen sprach ich ein paar Mal über etwas, das uns beiden
aufgefallen war. Wir waren aber sicher nicht die einzigen. 😊
Alle Figuren
in dem Roman durchlaufen auf die eine oder andere Art ihre Tiefen aber auch
ihre Höhen. Letztlich leben sie alle in einer Welt, in der Geld keine Rolle
spielt, auch wenn das eingangs noch etwas differenzierter ist. Die Geschichte
greift das finanziell sehr erfolgreiche Leben der Charaktere nur insofern auf,
weil es die Lebensumstände erklärt. Eine Frage, die wir uns gestellt haben, war,
wie die Geschichte mit diesen Protagonisten funktioniert hätte, wenn zu allem,
womit sie geschlagen sind, auch noch fortwährende existenzielle, finanzielle
Sorgen und Nöte hinzugekommen wären? Würde die Geschichte dann genauso
funktionieren? Wenn nicht, was ließe sich daraus an Erkenntnis gewinnen?
Ich versuche
mal eine Antwort, ohne Anspruch auf Wahrheit: Ich vermute, dass die Geschichte
eine deutlich andere geworden wäre, wären die Charaktere arm oder auch nur „normal“
vermögend. Es würde Gewissheiten und Spielräume der Figuren vermutlich deutlich
verschieben. Die Geschichte über Liebe und Freundschaft und eine dunkle
Vergangenheit würde ganz andere Bilder benötigen, um ähnlich wirkmächtig zu
werden. Vielleicht ist es auch gerade der grelle Gegensatz von Reichtum und
Leid, der hier besonders wirksam ist. Dem Roman, nimmt diese Überlegung nichts.
Aber es ist spannend, darüber nachzudenken.
Kurz und
gut: Es kommt schlimmer. Aber das ist Literatur. Unbedingt Lesen!
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