Montag, 30. Januar 2023

Graciliano Ramos: Karges Leben


„Im dürren Landesinneren des brasilianischen Nordostens zieht der Viehhirte Fabiano von einem Ort zum nächsten – immer auf der Suche nach Arbeit, immer in Sorge um seine Familie, die ihn auf seiner Wanderschaft notgedrungen begleitet, und immer mit der vergeblichen Hoffnung, sein Los würde sich eines Tages zum Besseren wenden.

Karges Leben ist der Roman des brasilianischen Realismus schlechthin. Schonungslos hart – trotzdem poetisch – kritisiert Graciliano Ramos die gesellschaftlichen Missstände Brasiliens. Ein zeitloses, universelles Stück Literatur.“ (Klappentext)

Huch, schon wieder so ein alter Text. 😊 Der erschien tatsächlich zuerst in Brasilien im Jahr 1938. Erst fast 30 Jahre später kam es zu einer deutschen Ausgabe. Diese hier stammt von 2013. Das Phänomen, von dem hier erzählerisch berichtet wird, scheint sich aber eben in der ganzen Zeit nicht überlebt zu haben. Also bin ich jetzt auf brasilianischen Realismus gespannt. 😊

(Übersetzung: Willy Keller)

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Sonntag, 29. Januar 2023

Bruno Latour: Das terrestrische Manifest


„Eine Serie politischer Unwetter hat die Welt durcheinandergebracht. Die Instrumente, mit denen wir uns früher orientierten, funktionieren nicht mehr. Verstanden wir Politik lange als einen Zeitstrahl, der von einer lokalen Vergangenheit in eine globale Zukunft führen würde, realisieren wir nun, dass der Globus für unsere Globalisierungspläne zu klein ist. Der Weg in eine behütetere Vergangenheit erweist sich ebenfalls als Fiktion. Wir hängen in der Luft, der jähe Absturz droht.
In dieser brisanten Situation gilt es zuallererst, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und sich dann neu zu orientieren. Bruno Latour unternimmt den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen und unsere politischen Leidenschaften auf neue Gegenstände auszurichten. Jenseits überkommener Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär plädiert er für eine radikal materialistische Politik, die nicht nur den Produktionsprozess einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz.“ (Klappentext)

Dieses Manifest erschien im französischen Original 2017, auf Deutsch 2018 – von Corona und dem Angriffskrieg gegen die Ukraine war also noch nicht die Rede. Gesellschaftliche Transformation und Klimawandel waren schon präsent, wenn auch noch nicht verknüpft mit den Aktionen von Klimaaktivist:innen wie heute oder mit den explodierenden Energiekosten für die Wirtschaft wie für die Privathaushalte.

Jüngst erschien ein weiterer Text des Ende 2022 verstorbenen Autors, der sich mit dem Konzept einer „ökologischen Klasse“ beschäftigt, in Weiterentwicklung und/oder Anlehnung an die klassische Klassentheorie. Dieses Werk dürfte also an das hier gezeigte anschließen. Und ich bekomme gerade große Lust beides zu entdecken. 😊

(Übersetzung: Bernd Schwibs)

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Samstag, 28. Januar 2023

Candice Fox: 606


„Für Emily Jackson war der Tod des Busfahrers ein verstörendes Schauspiel.“ (Seite 7)

Ein Hochsicherheitsgefängnis wird das Ziel eines Anschlages, mit dem die Flucht der Häftlinge erpresst werden soll. Als das gelingt befinden sich 606 Schwerverbrecher auf der Flucht, darunter auch die Insassen des Todestraktes.

Auf Seiten der Verfolger stehen eine ziemlich durchgeknallte FBI-Agentin und eine Wärterin aus ebendiesem Todestrakt, die eine ganz besondere persönliche Rechnung offen zu haben scheint. Während die Agentin mit den Drahtziehern des Ausbruchs diejenigen zu fassen versucht, die womöglich noch Schlimmeres im Schilde führen, ist die Wärterin fest entschlossen John Kradle zu fassen.

Der saß unter ihrer Aufsicht in der Todeszelle wegen des Mordes an seiner Familie. An seiner Schuld gab es für Celine Osbourne, die Wärterin, keinen Zweifel. Warum sie nun aber so sehr auf dessen Ergreifung erpicht ist, dass sie mehr als ihren Job aufs Spiel zu setzen bereit ist, dass verrate ich hier nicht. Es ist schließlich ein Thriller, und wo bliebe da sonst die Spannung? 😊

Wäre dieses Buch ein Film, könnte er gut nebenher laufen, während ich irgendetwas anderes mache. Solide Unterhaltungskost, ein bisschen Nervenkitzel, ein paar schnelle Schnitte, handwerklich gut gemacht – aber eben alles einigermaßen erwartbar.

Leicht unerwartet ist eher, dass Suhrkamp sich entschieden hat, diesen Thriller ins Programm zu nehmen. ^^

Kurz und gut: Für ein paar nette folgenlose Lesestunden ganz gut geeignet.

(Übersetzung: Andrea O´Brian)

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Andreas Malm: Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen


„In diesem mitreißenden Manifest fordert Andreas Malm nichts weniger als die Eskalation: Wir müssen den Verbrauch fossiler Brennstoffe zum Stillstand bringen – durch unser Handeln, mit unseren Körpern, mit allem, was uns zur Verfügung steht. Können Sabotage und die Zerstörung von Eigentum und Infrastruktur gerechtfertigte Mittel sein, um den Druck auf die Machthabenden zu erhöhen, die dringend notwendigen Veränderungen endlich einzuleiten? Unsere Welt steht schon längst in Flammen, nun gilt es, für sie kämpfen zu lernen.“ (Umschlagtext)

Ich empfinde die Verdrehung von Begriffen wie den des „Klimaterroristen“ zunehmend als populistisch überwältigend, Fakten verweigernd, verdrehend und zugleich verharmlosend in die Richtung derer, die tatsächlich als Terroristen gelten müssen. Dieses Stimmungmachen nehme ich als deutlich gefährlicher wahr als die Aktionen von Klimaaktivisten. Zugleich finde ich die Debatte darüber, wie ein Kampf fürs Klima aussehen kann, darf und auch soll für absolut überfällig.

Ich weiß nicht genau, ob und wie dieser Text verzahnt ist mit den Aktionen der „Letzten Generation“ zum Beispiel, die in den letzten Monaten immer wieder durchgeführt wurden. Aber ich bin gespannt darauf, diesen Text zu entdecken.

„Müssen wir Gewalt anwenden, um unsere Zukunft zu retten? Eine brisante Streitschrift.

Die wissenschaftlichen Fakten bezüglich der Klimakrise, die Daten, die das Massenaussterben und die Erderwärmung beziffern, liegen auf dem Tisch, an dem führende Politikerinnen und Politiker regelmäßig zusammenkommen, um Klimaziele zu vereinbaren. Auf den Straßen vor den Tagungshotels und Regierungspalästen protestieren nicht erst seit gestern immer mehr Men­schen. Sie starten Petitionskampagnen und sammeln Unterschriften. Trotz­dem haben wir es mit einer nach wie vor boomenden Industrie für fossile Brennstoffe zu tun, die Gewinne steigen kontinuierlich. Ist es also an der Zeit, das kaputt zu machen, was uns kaputt machen wird? In diesem mitreißen­den Manifest fordert Andreas Malm nichts weniger als die Eskalation: Wir müssen die Förderung fossiler Brennstoffe zum Stillstand bringen – mit unserem Handeln, unseren Körpern, mit allem, was uns zur Verfügung steht. In seiner historisch fundierten Lesart der Geschichte erfolgreicher sozialer Bewegungen – für das Frauenwahlrecht, gegen die Apartheid – zeigt Andreas Malm, dass jeder dieser Kämpfe Grenzen überschritten hat: Eigentum wurde zerstört, Infrastruktur angegriffen. Nur so konnte der notwendige Druck aufgebaut werden, um Veränderung voranzutreiben. Mit der Leidenschaft eines Aktivisten und dem Wissen eines Forschers diskutiert Andreas Malm das Spannungsfeld zwischen Gewaltfreiheit und direkter Aktion, Strategie und Taktik, Demokratie und sozialer Veränderung. Und zeigt uns, wie wir in einer Welt kämpfen können, die längst in Flammen steht.“ (Verlagstext)

(Übersetzung: David Frühauf)

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Mittwoch, 25. Januar 2023

Phil Klay: Den Sturm ernten


„Am Ende zählt nur eins: auf der richtigen Seite stehen. Doch für vier Menschen in dieser Geschichte, alle aus Idealismus an einem Ort der Gewalt im kolumbianischen Dschungel gekommen, ist die Grenze zwischen Gut und Böse längst verwischt …

Phil Klay verwandelt seine Erfahrungen als US-Marine in eine weltumspannende Geschichte des Krieges. Er legt ein brillantes erzählerisches Zeugnis ab von den Verheerungskräften der Zivilisation, von Liebe und Hass, Schuld und Stolz in einer globalisierten Welt.“ (Umschlagtext)

Ich musste etwas an Joe Haldemans „Der ewige Krieg“ denken als mir dieser Roman im besten Buchladen von allen in die Hände fiel. Aber es gibt natürlich noch eine ganze Reihe weitere Texte, die zwar fiktional aber eben oft aufgrund der Lebenserfahrungen ihrer Autor:innen von Krieg, Imperialismus, Kriegslogik anstatt Menschenrechte etc. erzählen. Ich darf auf jeden Fall gespannt sein. 😉

„Im kolumbianischen Dschungel handeln sie aus Überzeugung. Sie setzen ihr Leben ein – als Mitglied der US-Special-Forces, als Journalistin, Patriot, Paramilitär -, sie kämpfen um das Schicksal eines Landes, dessen Fundamente abgetragen wurden, von falschen Freunden in Washington, den Drogen, jahrzehntelangen Heilsversprechen. Als kurz vor dem Friedensreferendum das labile Gleichgewicht der Kräfte von einer neuen, an der Grenze zu Venezuela operierenden Gruppe gefährdet wird, stehen sie als Idealisten mit dem Rücken zur Wand. Um ihr Leben zu retten, müssen sie Antworten finden auf eine Frage: Was heilt die Wunden der Geschichte, was lässt den Schmerz vergessen und an das Gute glauben?“ (Verlagstext)

(Übersetzung: Hannes Meyer)

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Sonntag, 22. Januar 2023

Kai Matthiesen/ Judith Muster/ Peter Laudenbach: Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert


„Die Kommunistische Partei Chinas, Kindergärten, Automobilhersteller, Amnesty International, die Universität Bielefeld, das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch, Staatstheater und psychiatrische Anstalten haben mindestens eine Gemeinsamkeit.“ (Seite 9)

Sie bilden arbeitsteilige Strukturen zur Um- und Durchsetzung konkreter Ziele. Es sind Organisationen, in denen Menschen arbeiten. Und der Frage nachzugehen, wie Organisationen am besten funktionieren, woran sie immer wieder auch scheitern und wie Menschen sich in diesen Strukturen bewegen ist immer wieder spannend und faszinierend. Auch, weil das ja zumeist auch Alltag von uns selbst ist.

In meinem ersten Post zu diesem Buch schrieb ich, dass ich auf den ersten Seiten schon ganz viel genickt habe und gleichzeitig herzlich widersprechen wollte. Das zog sich so durch das ganze Buch – und ich bin schwer begeistert. 😊

Organisationen bilden also Strukturen aus, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Ziele werden von Menschen definiert. Ebenso entstehen die Strukturen natürlich nicht aus sich selbst heraus, sondern sind menschengemacht. Trotzdem entsteht so etwas wie eine den jeweiligen Organisationen innewohnende Eigenlogik, die getragen wird von den Menschen, die in der Organisation arbeiten. Diese Eigenlogik prägt das Selbstverständnis der Organisationsmitglieder und formiert gewissermaßen auch ein Werteschema, das im Idealfall auch praktisch gelebt wird.

Spannend wird es nun, wenn Ziele nicht erreicht werden, Unfälle passieren, Abläufe haken etc. Die Autor:innen beschreiben, wie in diesen Fällen oft genug der Mensch als Störfaktor ausgemacht wird. Indem Schwierigkeiten auf den Schultern von konkreten Mitarbeitenden abgeladen werden, wird der oft genug notwendige Blick darauf, ob vielleicht die Strukturen fehlerhaft sein könnten, verstellt. Auch hier greift die Organisationslogik, die natürlich davon ausgeht, dass es nicht die eigenen Strukturen sein können, denn dann wäre ja die Organisation selbst fehlerbehaftet. Also müssen einzelne Menschen Schuld haben.

Nicht weniger spannend ist es, den Blick auf Menschen zu richten, die sich in Organisationen bewegen. Ihnen kommen Rollen zu, die mit bestimmten Aufgaben, Funktionen verknüpft sind. Oft genug werben Organisationen aber nun mit besonders flachen Hierarchien, eine familiären Atmosphäre. Was ist denn nun davon zu halten, wenn es doch eigentlich um „nur“ um die Erfüllung von konkreten Aufgaben geht? Ist es, so fragen die Autor:innen, denn nicht übergriffig, wenn Organisationen mehr als das Ausfüllen der Organisationsrolle erwarten und gleich den ganzen Menschen vereinnahmen wollen?

In einer Welt, in der wir oft genug lernen, nicht nur als etwas zu arbeiten, sondern dann vielmehr mit unserer beruflichen Rolle, also der Organisationsrolle, gleichsam zu verschmelzen, in so einer Welt muss die oben gestellte Frage schon fast seltsam anmuten. Dies gilt umso mehr, wenn die Organisationsziele nicht allein profitorientiert sind. Was ist mit NGO´s, wohltätigen Verbänden, Gewerkschaften, Parteien?

Ich hätte aus meiner Arbeitserfahrung heraus schon das Gefühl, dass Organisationsmitglieder neben ihren Rollen innerhalb der Organisation auch als Menschen mit Interessen jenseits der Rolle, mit Wertvorstellungen etc. gesehen werden wollen. Was aber wäre nun das richtige Maß, um einer Entgrenzung der Organisationsrolle entgegenzuwirken?

Hier und bei einer ganzen Reihe weitere spannender Fragen liefern die Autor:innen eine Menge Anregungen zum Nachdenken. Ich zumindest kam gar nicht umhin, immer wieder beim Lesen innezuhalten und auf mein eigenes Berufsleben zu blicken.

Zwei Punkte seien außerdem zu dem Buch noch unbedingt erwähnt: Zum einen finde ich die Gestaltung für ein Sachbuch wirklich gelungen. Toll gestaltete Bücher in diesem Bereich sind leider die Ausnahme, umso mehr fällt dieses hier auf. Zum anderen macht es wirklich Spaß, den Gedanken der Autor:innen und auch den vielen Beispielen und Theorieexkursen zu folgen, denn der Text ist wirklich gut geschrieben. Auch dies ist in diesem Bereich eher eine Ausnahme – es sei denn, ich las da bisher immer die falschen Bücher. 😊

Kurz und gut: Um an diesem Buch Spaß zu haben und es mit Gewinn zu lesen, muss niemand Organisationsentwickler:in sein. Du bist selbst in irgendeiner Form Teil einer Organisationsstruktur? Dann los und lesen! 😊

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Donnerstag, 19. Januar 2023

Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt


„Baxter´s Beach, Barbados: das perfekte Paradies, solange niemand an der Oberfläche kratzt. Cherie Jones erzählt in eindringlicher, lyrischer Sprache, wie Liebe und Verbrechen das Leben ihrer Figuren über alle Klassenschranken und Hautfarben hinweg auf dramatische Weise verändern.“ (Umschlagtext)

Da ist doch wieder mal ein Roman von CulturBooks auf meinem Stapel gelandet. Hatte ich schon erwähnt, dass ich sowohl in die Textauswahl als auch die Gestaltung des Verlags immer wieder verliebt bin? 😉

„Die Legende von der einarmigen Schwester sollte Lala eigentlich davor warnen, was mit Mädchen geschieht, die ihren Müttern nicht gehorchen. Doch für Lala ist e die verheißungsvolle Geschichte einer Abenteurerin, und als sie erwachsen ist und auf schreckliche Weise ein Baby verliert, schöpft Lala ausgerechnet daraus Hoffnung auf ein besseres Leben.

Adan ist ein charismatischer, aber gewissenloser Kleinkrimineller, dessen Einbruch in eine der Strandvillen eine Kette von furchtbaren Ereignissen auslöst: ein Schuss, den niemand hören sollte. Ein Mord, der alles verändert und der auch Lala an einen Wendepunkt führt. Denn Adan ist ihr Ehemann: Wird sie es endlich schaffen, dem Kreislauf aus Armut und Gewalt zu entkommen?“ (Klappentext)

(Übersetzung: Karan Gerwig)

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Mittwoch, 18. Januar 2023

Cormac McCarthy: Die Straße

 

(Übersetzung: Nikolaus Stingl)

„Wenn er im Dunkel und in der Kälte der Nacht im Wald erwachte, streckte er den Arm aus, um das Kind zu berühren, das neben ihm schlief.“ (Seite 7)

Berlin in diesem grauen so-halb-Winter liefert genau die triste Stimmung, um sich auf die Welt einzulassen, die Cormac McCarthy in diesem Roman unerbittlich entworfen hat.

Nichts ist übrig von Amerika. Das Land liegt erstarrt unter einer Schicht aus grauer Asche. Gerade so viel blieb übrig, dass Brände sich durch die spärlichen Reste der Wälder fressen können. Städte, Dörfer sind vor dem allgegenwärtigen Tod erstarrt. Wo noch Menschen leben, tun sie sich schlimmes an, um einen weiteren Tag in dieser endlosen Trostlosigkeit zu erwachen.

Durch diese Welt ohne Vorher und Nachher schlurfen, stolpern ein kleiner Junge und dessen Vater. Sie meiden andere Menschen, schleppen sich von Rast zu Rast auf dem Weg an die Küste. Ich bin nicht einmal sicher, dass es Hoffnung ist, die sie noch antreibt.

Der Mann wacht über seinen Sohn, bereitet ihn aber gleichsam auf den Tag vor, da der Junge ohne ihn weitergehen muss. Und dieser Tag wird kommen, da ist sich der Mann sicher. Beim Lesen schnürt einem die Kehle zu, den Jungen Seite für Seite sich fast auflösen zu sehen.

Sie kauern spärlich bedeckt unter kahlen Bäumen, hinterlassen Fußspuren im Asche-Schneematsch. Selbst wenn sie einmal Essbares oder brauchbare Dinge finden, füllen sie allenfalls kurz den Magen, müssen sie doch allzu schnell wieder aufgegeben werden und sind nur kurz von Nutzen. Hier ist einfach alles vergänglich.

Vor den Menschen, die es noch gibt, nehmen sie sich in Acht. Der Mann hat genug davon gesehen, wozu Überlebende in dieser Welt fähig sind. Dass der Junge trotz allem daran glauben will, dass es noch gute Menschen gibt, ängstigt ihn, treibt ihn aber auch immer weiter an. Was aber könnte nur das Morgen in einer solchen Welt sein?

McCarthy schenkt seinen Figuren in dieser Geschichte nichts. Alles in dieser Welt zeugt vom Ende aller Zeiten, davon dass hier nur noch ein Überleben aber kein Leben mehr möglich ist. Der Text lässt nicht einmal bei den Leser:innen die Hoffnung aufkommen, am Ziel, an der Küste könnte wirklich irgendeine Art der Erlösung für die beiden zu finden sein.

Die stete Folge von mal kürzeren, mal längeren Absätzen sorgt für einen Leserhythmus, der sich mit dem Mann und dem Kind dahinschleppt. Die Sprache der Erzählstimme ist eher knapp und klar; hier gibt es nichts mit schönen sprachlichen Bildern zu beschreiben. Die Dialoge zeugen davon, dass es nichts mehr gibt, von dem sich ausufernd erzählen ließe. Mit der Kraft fliehen auch die Worte aus den Körpern der beiden.

Der Text entfaltet eine fast schon unheimliche Sogwirkung, gerade weil hier nichts schön ist. Ich habe mich streckenweise wirklich unbehaglich dabei gefühlt, den Mann und den Jungen zu beobachten und vergehen zu sehen. Sonst schreiben wir Leser:innen ja gern an dieser Stelle, dass wir das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen mochten. In diesem Fall allerdings musste ich den Band immer wieder wegpacken, eben weil er so gut geschrieben ist, dass die Geschichte, die Figuren so nahekommen.

Kurz und gut: In dieser Welt ist selbst die Hoffnung trostlos und grau. Lesen!

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Dienstag, 3. Januar 2023

Selim Özdogan: Wieso Heimat, ich wohne zur Miete


„Krishna Mustafa wird von Laura verlassen, weil er seine Identität noch nicht gefunden hat – was immer das heißen mag. Kurz entschlossen reist er nach Istanbul, in die Stadt, in der er geboren ist. Auf der Suche nach seinen Wurzeln, der verlorenen Liebe und guter Schokolade erlebt Krishna die absurdesten Abenteuer, verpasst regelmäßig seinen Vater und findet Freunde, die zu ihm stehen. […]“ (Umschlagtext)

Mal wieder überraschte mich der MM zu Weihnachten. Neben dem Stöbern im Buchladen ist das meine zweitliebste Art, neue Autor:innen und Bücher zu entdecken. 😉

„Krishna Mustafa ist Deutscher und Türke gleichzeitig – zumindest sagen das seine beiden Reisepässe. Geboren wurde er in Istanbul, wo sich seine Mutter auf der Rückreise vom Hippie-Paradies Indien in seinen Vater verliebte, später lebte er in Freiburg. Bis zu dem Tag, an dem ihn seine Freundin Laura verlässt, weil er seine Identität noch nicht gefunden habe. Also tauscht Krishna Mustafa kurz entschlossen mit seinem türkischen Cousin das WG-Zimmer und reist nach Istanbul. Dort will er seinen Vater endlich wiedersehen und das Land kennenlernen, in dem er seine ersten Jahre verbracht hat. Voller Neugier auf das Leben lässt sich Krishna auf ein turbulentes Abenteuer zwischen den Kulturen ein.

Selim Özdogan erzählt die Geschichte eines Mannes, der auszieht, um seine Wurzeln zu erforschen und seinen Platz im Leben zu finden. In spielerisch leichtem Ton versetzt er seine Leser in Krishnas wundersame Welt, schildert provokant, klug und witzig die kulturellen und religiösen Zuschreibungen der Deutschen, der Türken und all derjenigen, die dazwischen stehen.“ (Klappentext)

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