Dienstag, 26. Februar 2019

Franzobel: Das Floss der Medusa. Roman nach einer wahren Begebenheit



„Dreimal neun ist Donnerstag, und der 18. Juli des Jahres 1816 war ein herrlicher Donnerstag.“ (Seite 7)

Geschichten, in denen Menschen gezwungen sind, sich ihren eigenen Grenzen zu stellen und weit darüber hinaus zu gehen, sind schon lange ein faszinierender Stoff. Wenn aus dem individuellen Drama auch gleich noch ein soziales wird, weil ganzen Gemeinschaften die zivilisatorische Fassade zerbröckelt, dann kuscheln wir uns als Zuschauer*innen und Leser*innen gleich noch mal so gänsehäutig in den Sessel.

Endzeitszenarien bieten sich für solche Geschichten natürlich unbedingt an. Die Welt, wie wir sie kennen, geht unter oder ist schon längst verschwunden. Was bleibt von all unseren Fortschritten, von unserem aufgeklärten und gesitteten Miteinander, wenn es nur noch ums nackte Überleben geht? Oder braucht es manchmal nicht auch nicht einmal den Tod vor Augen, um uns zurückzuwerfen aufs rein Animalische? Ok ok, so leicht ich hier Gefahr laufe, mich im Kitschig-Pathetischen zu verlieren – so leicht sind wir modernen Menschen in der so sehr zivilisierten Welt offenbar für solche Stoffe empfänglich. Gemessen an der Vielzahl erfolgreicher Serien, Filme, Romane, Comics … - die genau das bedienen. Die Lust, uns als zivilisierte Wesen scheitern zu sehen.

Eine Unterkategorie von derlei Stoffen sind historisch belegte Geschichten, die schon in der Vergangenheit bezeugten, wie wenig es manchmal braucht zum Scheitern.

Eine solche bietet Franzobel dar in diesem, ich sag es gleich mal vorweg und ohne Schwafel, in diesem großartigen Roman. Eben just an diesem 18. Juli 1816 endet vorläufig das zweiwöchige Martyrium von 15 Menschen. Sie trieben auf einem Floss, nackt, kaum mehr als Haut und Knochen, eher tot als lebendig. Nicht alle überlebten ihre Rettung vor der Westküste Afrikas.

Franzobels Schilderung setzt mit der Rettung der Schiffbrüchigen von dem Floss ein, führt aber alsbald und mit erzählerischem Schwung zurück zum Aufbruch der Medusa (noch als ganzes und heiles Schiff) aus ihrem französischen Heimathafen. Das Ziel der kleinen Flottille, die von der Medusa angeführt wird, ist Afrika. Keine aufregende Reise eigentlich. Eigentlich!

So ein Schiff als abgeschlossener Raum, aus dem es auf dem Meer auch kein Entrinnen gibt, ist natürlich ein Laboratorium, dass sich Schriftsteller*innen kaum besser ausdenken können. Und so gibt die Besatzung genau die Mischung her, die eine richtige Katastrophe braucht. Zum eitlen und entscheidungsschwachen Kapitän gesellt sich ein inkompetenter aber eloquenter, hochstapelnder Berater. Zwischen Ego, Ehrgeiz und Gehorsam hin und her gerissene Offiziere stehen einer Mannschaft vor, die aus raubeinigen Gesellen besteht, Ganoven auch. Auch nervige und nervende Passagiere dürfen nicht fehlen, wie der künftige aber ignorante Gouverneur der anzusteuernden Kolonie nebst hysterisch-hohler Gattin, überforderte Viel-Kinder-Familien, ein unheimlich emotionsloser Schiffsarzt, monströses Küchenpersonal – ach, alles ist beisammen.

Ich will gar nicht zu viel verraten, vielleicht nur das Offensichtliche: Die Medusa sinkt. Und 147 Menschen finden keinen Platz mehr auf den zu wenigen Rettungsboten und werden auf einem Floss zurückgelassen. Was sich auf dem Floss in 13 Tagen abspielt und dafür sorgt, dass gerade noch 15 zum Retten übrigbleiben, ist ebenso grausam-guselig-spannend wie die Rettung der Glücklichen aus den Booten.

Und Franzobel tut wirklich alles dafür, dass ich wenigstens nicht anders konnte als mit nachdenklichem Gesicht aber eben doch fasziniert diesem hypnotisierenden Trauer- und Schauerspiel zuzuschauen. Am Ende bin ich gar nicht sicher, ob das Überleben wirklich ein Geschenk für diejenigen war, die es zurück an Land schafften.

Ein Geschenk ist aber für meinen Geschmack dieser grandios erzählte Roman. Franzobel schafft es, genau die richtige Distanz zu wahren, die Ironie, Sarkasmus auch, aber eben auch unbedingt Empathie ermöglicht. Sensationsgier kommt da nicht auf.

Kurz und gut: Mein erster Franzobel lässt mich begeistert zurück. Von dem will ich mehr lesen!

#lesewinter #roman #franzobel #zsolnay #schiffbruch #zivilisation #untergang #menschen #lesen #bücher #leselust #lesenswert #literatur

Montag, 25. Februar 2019

Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus



"Wer über den Populismus reden will, aber nicht zugleich auch über den Kapitalismus, landet meist nur bei der Identitätspolitik." (Umschlagtext)

Bämm! Hab ich dann gleich mal mitgenommen und bin neugierig. 😉

#lesewinter #sachbuch #philipmanow #suhrkamp #politik #gesellschaft #debatte #politischebildung #polbil #populismus #identität #lesen #leselust #bücher

Sonntag, 24. Februar 2019

Michael Schröter: Mäcke Häring - Türme, Keller, Hühnerställe. Eene Kriminaljeschichte aus Berlin



"Dieser Fall ist alles andere als ein Fall. Denn diesmal könnte es Privatdetektiv Mäcke Häring höchstpersönlich an den Kragen bzw. an seine Ermittlerlizenz gehen. [...]
Intrigen werden gesponnen, Hoffnungen geweckt, Schlachten geschlagen - jeder gegen jeden! Und am Ende bleibt nur das nackte Leben." (Umschlagtext)

Ach, Michael Schröters Berlin-Comic ... 🤩😍 

Nachdem die Serie "Babylon Berlin", die Romane von Volker Kutscher und die Comicadaption von Arne Jysch so viel Aufmerksamkeit erhielten, müsste doch Mäcke Häring auch langsam für ein größeres Publikum zugänglich sein. 😉

#lesewinter #comic #michaelschröter #selbstverlag #berlin #20erjahre #30erjahre #krimi #mäckehäring #indiecomic #indiebook #lesen #leselust #lesenswert #literatur #yesyoucomican

Samstag, 23. Februar 2019

Gregorio Ortega Coto: Marokkanische Minze



„Es roch nach frischer Minze.
Pablo Calero gab grünen Tee, reichlich Zucker und frische Minzblätter in die Zinnkanne und füllte sie mit heißem Wasser auf. Tee zubereiten war seine Sache.“ (Seite 5)

Frische Minze zieht sich gleichsam als – ähem – grüner Faden durch die Geschichte, die mit Pablos Entschluss beginnt, nach Marokko zu reisen. Mit seiner Mutter lebt er, gerade Neunzehn geworden, in Barcelona. Vor einigen Jahren, er war zehn oder elf Jahre alt, strandete er mit ihr in der Stadt. Aufgebrochen waren sie zunächst in Marokko, in Bab-Qarfa im Rif-Gebirge.

Der Roman erzählt also von einer Rückkehr ins Land der Kindheit. In Rückblenden, die den Hauptteil der Erzählung ausmachen, lernen wir Lina und Gustavo kennen, Pablos Eltern. Als junges Paar entflohen sie der Perspektivlosigkeit im Spanien unter Franco und gingen nach Marokko, um sich dort ein neues, besseres Leben aufzubauen.

Leider ging es mit ihnen und ihrer Ehe nicht lange gut. Gustavo arbeitete als Holzfäller und war selten zuhause, dann aber meist betrunken. Pablos Geburt vermochte daran nicht so viel zu ändern. Ein tragischer Unfall lässt Lina und Pablo allein zurück in der Garnisionsstadt.

Das spanische Militär sorgt dafür, dass die spanische und die einheimische Bevölkerung nicht zuviel miteinander zu tun haben. Aber auch unter den Spaniern gibt es feine Unterschiede. Das seit dem Tod des Vaters zunehmend schweigsame und eher wunderliche Kind Pablo schließt Freundschaften mit einigen exotischen Gestalten in diesem Mikrokosmos. Deren Geschichten, die der Autor immer wieder einstreut, fächern das Leben in dieser Enklave immer weiter vor uns auf.

Da ist die feine Gesellschaft, der die Familie des Kommandanten angehört, des Arztes, der Priester, die Offiziere. Sie halten viel auf sich und deutlichen Abstand zur einfachen spanischen Bevölkerung, die sich als Arbeiter oder Händler verdingen und ein wenig wie Glücksritter auf mehr Glück und Erfolg hoffen, als ihnen in Spanien selbst sicher gewesen wäre. Die Einheimischen geraten da fast zur Staffage, als Diener, Botengänger vielleicht noch Händler. Marokko, das ist das Umland, in das spanische Zivilisten ohnehin kaum einen Fuß setzen.

Als Witwe mit Kind hängt Lina zwischen alledem, kann sich aber zumindest mit Handarbeiten über Wasser halten. Ein kleines Netzwerk von engen Freunden bietet ihr Halt; dies sind auch die prägenden Freunde von Pablo.

Mit der Unabhängigkeit Marokkos 1956 endet das fast schon beschauliche Leben in Bab-Qarfa für Pablo und Lina, die sich entschließt, mit ihrem Sohn zurück nach Spanien zu gehen. Pablo muss seine Freunde zurücklassen und nimmt eine ganze Menge aufkeimende Fragen mit. Genau die führen ihn nun, gerade erwachsen geworden, wieder zurück.

Viel hat sich geändert in der kleinen Stadt. Vor allem scheint niemand mehr da zu sein, von den Freunden, die er kannte. Fast schon auf der Rückreise findet er dann doch noch einen alten Bekannten, der mit gemeinsam mit seinem Freund eine Fahrradwerkstatt in Tanger betreibt. Hier gelingt es Pablo auch endlich, sich Fragen zu sich selbst zu stellen. Er wird dort noch eine Weile bleiben.

Gregorio Ortega Coto bietet in seinem Roman unglaublich viele kleine Geschichten, die sowohl das Leben unter Franco in Spanien aber vor allem in der Kolonie Marokko eindringlich illustrieren. Pablos Reise ins Land seiner Kindheit liefert die Rahmenhandlung. Allerdings hatte ich beim Lesen immer wieder das Gefühl, die wechselnden Szenen stünden ab und an etwas unverbunden nebeneinander. Dem Lesevergnügen tat das nicht zwingend einen Abbruch, da Coto wirklich Interessantes zu erzählen weiß und Land und Leute lebendig werden lässt.

Aufgefallen ist mir außerdem, dass sich ganz viele Formulierungen finden, bei denen zwar irgendwie klar ist, was gemeint ist, aber sie wirken dennoch immer wieder wie knapp danebengegriffen. Irgendwie ist das trotzdem nicht wirklich schlimm, nur ein wenig irritierend.

Kurz und gut: Ein interessanter Ausflug ins koloniale Marokko der frühen 50er Jahre – mit etwas erzählerischer Luft nach oben. Wer das Thema reizvoll findet, wird hier nicht enttäuscht werden.

#lesewinter #roman #gregorioortegacoto #querverlag #marokko #spanien #kolonie #kindheit #erinnerung #rückkehr #indiebook #lesen #leselust #literatur #bücher #lesenswert

Freitag, 22. Februar 2019

Jeff Lemire: Der Unterwasser-Schweisser



„…aber, meine verehrten Hörer da draußen an den Geräten, ihr solltet eure Kids trotzdem ordentlich einpacken, bevor ihr sie für Süßes oder Saures da raus in die Nacht schickt …“ (Seite 9)

Jeff Lemire im Hinstorff Verlag aus Rostock? Echt? Natürlich war auch ich längst begeistert von den Arbeiten des Kanadiers, als ich irritiert diesen Band in der Hand hielt. Und ja, Hinstorff hat mit der „Im Eisland“-Trilogie von Kristina Gehrmann ganz offensichtlich nicht aufgehört, auch in Comics zu machen. Aktuell sind zehn Graphic Novels auf der Website zu finden. Natürlich alle mit Bezug zu maritimen Themen. So eben auch dieser Band von Jeff Lemire.

Der Comic mit dem etwas sperrigen Titel führt uns in ein karges Küstenstädtchen Neuschottlands. In Sichtweite des kleinen Hafens thront eine Ölplattform stoisch über den Wellen des Ozeans. Wer nicht auf dem Stahlmonstrum arbeitet, ist vermutlich in der Fischerei tätig oder wartet auf die Angehörigen, die draußen auf der See unterwegs sind.

Viel mehr Hintergrund braucht die Geschichte von Jack auch gar nicht, der sich als Taucher verdingt. Er steigt in die See hinab, um Rohre der Ölplattform zu reparieren. Wenn das Leben in diesem namenlosen Kaff im Nirgendwo schon reine Weltflucht bedeutet, dann Jacks Job umso mehr. Er lässt beim Tauchen nicht nur seine schwangere Frau, das triste Städtchen und die von Wind und Wellen umtoste Plattform zurück. Tauchen ist das, was ihn mit seinem Vater verbindet, der Jahrzehnte zuvor just zu Halloween verschwunden ist. Das Hinabsteigen in die Tiefe der See ist gleichsam ein Eintauchen in bewusste und unbewusste Erinnerungen. Und davon hat Jack genügend. Und sie sind mit vielen Fragezeichen gespickt.

Jacks Vater war Taucher und Trinker. Leider geht das nicht gut zusammen und so besteht der Verdacht, dass eine ungute Kombination aus beidem dafür sorgte, dass Jacks Vater sich dieses Mal nicht nur verspätete, nicht nur einfach wieder ein Versprechen vergaß sondern eben ganz verschwand. Alljährlich zu Halloween kriecht Jack, der das Verschwinden seines Vaters nie verwinden konnte, ebenso wie seine verkorkste Kindheit, die Wehmut den Rücken herauf. Hochschwanger bräuchte seine Frau ihn allerdings ganz besonders dringend – im Hier und Jetzt.

Jeff Lemire erzählt nicht nur grandios und verwebt dabei Erinnerung und Gegenwart, sondern findet mit seinem Zeichenstil auch die passenden Bilder, um ein dichtes, atmosphärisches Netz zu weben, dass mich zumindest beim Lesen sofort packte und fest einschnürte. So fest, dass ich nach manchen Seiten tief ein- und ausatmen musste, wenn ich aus dem Erzählstrudel kurz auftauchte.

Kurz und gut: Egal wie man Jeff Lemire nun richtig ausspricht – merkt euch diesen Namen und lest alles, was ihr von ihm in die Hände bekommen könnt. Ehrlich! Und danke Hinstorff Verlag, dass ihr diesen Comic nach Deutschland geholt habt!

#lesewinter #comic #jefflemire #hinstorff #tauchen #ozean #erinnerung #dazwischen #twilightzone #menschen #leben #offshore #indiecomic #indiebook #lesen #leselust #bücher #literatur #graphicnovel #yesyoucomican

Donnerstag, 21. Februar 2019

Julia Ebner: Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen



„Alles sah anders aus, als ich im Mai 2016 begann, dieses Buch zu schreiben: Brexit und Trump lagen außerhalb der Grenzen des Vorstellbaren, die AfD saß noch nicht im Bundestag und die FPÖ noch nicht in der österreichischen Regierung.“ (Seite 13)

Am meisten interessierte mich an dieser Studie, dass die Autorin unter anderem versteckt und Undercover sowohl unter Rechtsextremen als auch unter Islamisten recherchiert hatte. Das versprach einen Hauch von Wallraff und vielleicht einen vertiefenden Blick hinter die Kulissen. Nicht zuletzt der Hinweis im Verlagstext, dass sie auch darüber schreiben würde, was sich gegen die extremistischen Umtriebe beider Seiten unternehmen ließe, machte mich zusätzlich neugierig.

Ich muss gar keinen Hehl daraus machen, dass mich das Ergebnis dann doch nicht so recht zu begeistern vermag. Klar, Julia Ebner bietet ihre Erkenntnisse und Einsichten gut lesbar für ein breiteres Publikum an. Viel Fleiß steckt ganz sicher in der Arbeit. Dafür aber fand ich keine neuen Einsichten, nichts, was den Blick aus meiner Sicht wesentlich erhellen würde. Lösungen, das relativiert sie im Text dann selbst, bietet sie keine an. Es bleibt bei sehr vagen Ansätzen, die eventuell zu Lösungen führen könnten.

Während die Autorin am Anfang des Buches einsteigt mit Schilderungen konkreter Begegnungen, scheint der überwiegende Teil dann eher aus klassischer Recherchearbeit zu bestehen. Nur ab und an erwähnt sie noch, wo und wie sie unterwegs gewesen sei. Allein in der Studie tritt dieses Moment zugunsten der Aufzählung von Zitaten, Namen und so weiter zurück.

Das ist insofern schade, weil die Ergebnisse vielleicht auch deshalb nicht so sonderlich überraschen: Rechtsextremisten und Islamisten haben sich gegenseitig als Feindbild erkoren und beziehen sich aufeinander. Sie wählen ähnliche Mittel zur Kommunikation und zur Außendarstellung. Sie erzählen ähnlich funktionierende Geschichten davon, dass der jeweils andere der große Gegner sei, den es nur zu besiegen gelte. Und natürlich ist das für beide Seiten schlechterdings auch nur das Mittel zum Zweck in ihren jeweiligen Gesellschaften die Mehrheitsmeinung zu beeinflussen oder zu erlangen.

Das Beste, was Extremisten passieren kann, ist, dass sie andere Extremisten als Feindbild finden können. So würde ich es mal zusammenfassen. Aber für diese Erkenntnis hätte es das Buch dann vielleicht doch nicht gebraucht.

Schwierig und nicht nur nicht neu finde ich ein paar andere Momente in Ebners Werk.

Die Autorin beschreibt die Welt in diesem Buch ausschließlich über die Extremismustheorie, die sie so hübsch mit dem Hufeisenbild nach Jean-Piere Faye beschreibt: Die Beziehungen zwischen Extremisten jeder Denkart und dem Rest, der Mitte der Gesellschaft, wären in Form eines Hufeisens beschreibbar. Demnach befänden sich die Extremisten, wie gesagt jeder Denkart, an den Enden des Hufeisens, während die Mitte sich um den Bogen versammelt. Damit seien die Extremisten einander immer ähnlicher und dichter beisammen als deren jeweiliges Verhältnis zur Mitte der Gesellschaft.

Leider lässt diese Beschreibung nicht zu, dass Ebner in der Studie auch danach fragen kann, welche gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser hochgelobten Mitte denn Menschen erst dazu bringen könnten, zu Extremisten zu werden. Möglicherweise reichen die Hinweise auf Perspektivlosigkeit und manipulative Abschlepper ja doch nicht vollends aus. Vielleicht ist manches auch in der Verfasstheit und systemisch in der Mitte angelegt (siehe Auswirkungen neoliberaler Entwicklungen)?

Die Studie bleibt aber eben an der extremismustheoretischen Oberfläche und analysiert nicht wirklich. Dies ist dann, um ein zweites Beispiel zu nennen, das ich schwierig finde, auch in dem Kapitel zu den Medien zu beobachten.

Wahrnehmungslücke, Sensationsgier, Fake-News – auch hier beschreibt Ebner sattsam Bekanntes. Medien sortieren Nachrichten durch ihre eigenen Filter, die in der Realität eher selten den an den Unis vermittelten idealistischen Standards entsprechen. Medien machen selbst Meinung und sorgen für blinde Flecken. Medien richten sich nach dem, was sie glauben, dass die Leser*innenschaft sehen, hören und lesen will …

Ich finde ja richtig, hier auch die Rolle von Medien zu thematisieren. Dann sollte aber auch besprochen werden, dass diese eben genau der Konstituierung der Mitte dienen, die für Ebner offenbar ja das einzig positive Gegenbild zu den Extremisten aller Art bildet (Hufeisen).

Richtigerweise führt die Autorin auf, dass wie viele andere soziale Gruppen eben auch Extremisten (immer wieder jeder Art) sich zunehmend in ihre eigenen, hermetisch abgeschlossenen Echokammern zurückziehen und so in sich geschlossene Weltbilder kreieren. Aber leider folgt hier ebenso keine tiefere Analyse, was genau das Versagen der Medien denn nun ausmacht – außer, dass sie als profitorientierte Unternehmen nun mal tun, was man in unserer Welt tut, um – ja, genau, um profitabel zu bleiben. Aber einmal mehr gibt es auch hier keinen tieferen Blick.

Die Unterkapitel, die sich damit beschäftigen, was da denn nun zu tun sei, um dem extremistischen Treiben zu begegnen, heißen: „Die Mitte mobilisieren“, „Die Randzonen retten“, „Kritisches Denken, Mut und Kreativität“. Inhaltlich geht es für meinen Geschmack auch nicht tiefer. Wenn die Welt des Extremismus nur in Hufeisenform funktionierte, sind diese Untertitel vermutlich wirklich folgerichtig. Ich werde aber das Gefühl nicht los, dass man dafür ganz schön viel an gesellschaftlichen Realitäten ausblenden muss, damit das funktioniert.

Es bleibt mir der schale Nachgeschmack eines Buches, dass dann doch deutlich weniger bietet, als Umschlag und Werbung vermuten ließen. Dass der Untertitel nun so gänzlich am Inhalt der Studie vorbei geht, ist da eigentlich auch egal. Lesen kann man das Buch dennoch - auch ohne bleibende Schäden. ;)

Kurz und gut: Wer von extremistischen Entwicklungen sprechen will, kann von den gesellschaftlichen Zuständen, die sie hervorbringen, nicht schweigen. Dem genügt „Wut“ leider nicht.

Vielen Dank an die WBG Darmstadt für das Rezensionsexemplar! ;)

#lesewinter #sachbuch #juliaebner #theissverlag #wbg_darmstadt #extremismus #gesellschaft #demokratie #rechtsextremismus #islamismus #hass #debatte #lesen #bücher #leselust #lesenswert

Mittwoch, 20. Februar 2019

Sebastian Barry: Tage ohne Ende



"Thomas McNulty und sein Freund John Cole sind gerade 17 Jahre alt, als ihre Karriere als Tanzmädchen in einem Saloon für Bergarbeiter ein natürliches Ende findet. Für den 'miesesten Lohn aller miesesten Löhne' verdingen sie sich bei der Armee und sind fortan unzertrennlich in Kriegsgeschäften unterwegs. Angst kennen beide nicht, dafür haben sie schon zuviel erlebt. [...] Wie ein irischer Simplicissimus stolpert [Thomas] durch das Grauen der Feldzüge gegen die Indianer und des amerikanischen Bürgerkriegs - davon und von seiner großen Liebe erzählt er mit unerhörter Selbstverständlichkeit und berührender Offenheit. In all dem Horror findet Thomas mit John und seiner Adoptivtochter sein Glück. Er bleibt ein Optimist, ganz gleich unter welchen Umständen." (Klappentext)

Im Buchladen hätte ich schon gar nicht mehr aufhören mögen mit Schmökern. So sehr hatte mich die Erzählstimme von Thomas gleich in ihren Bann geschlagen. Mal ganz abgesehen davon, dass der Steidl Verlag das Buch auch noch unverschämt toll gestaltet und ausgestattet hat.

Hach, für dieses Entdeckergefühl liebe ich Bücher. 🤩😘

#lesewinter #roman #sebastianbarry #steidl #amerika #indianer #bürgerkrieg #wilderwesten #liebe #homosexualität #lesen #bücher #leselust #literatur

Montag, 11. Februar 2019

Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur



"Das entscheidende politische Problem der Zukunft in westlichen Gesellschaften wird die Frage sein, ob die Empörung und Verzweiflung der aufgrund neoliberaler Politik verarmenden Bevölkerungsgruppen einen Ausdruck finden kann - und zwar einen anderen als jenen, den rechtspopulistische Parteien ihr geben wollen. Dies wird auch eine Frage der Sprache sein - sowie der Behandlung von Menschen als Erwachsene und mündige Bürgerinnen und Bürger." (Umschlagtext)

Ich hab ja eine Ahnung, was der Autor meinen könnte. Und genau das hat mich doch gleich recht neugierig werden lassen. 🤗

#lesewinter #sachbuch #robertpfaller #fischerverlag #sprache #gesellschaft #politik #demokratie #debatte #lesen #leselust #bücher

Samstag, 9. Februar 2019

Virginie Despente: Das Leben des Vernon Subutex 1



"Gerade noch war Vernon Subutex erfolgreicher Besitzer eines Kult-Plattenladens in Paris, mit besten Kontakten, als sein altes Leben plötzlich zusammenbricht. Ohne Job, ohne Wohnung muss er sehen, wie er zurechtkommt, und quartiert sich mithilfe von Facebook reihum bei alten Freunden ein." (Umschlagtext)

Jaja, ich bin mal wieder spät dran. Immerhin liegt längst der dritte Band vor. 😏 Aber dafür kann ich diese Gesamtschau einer Gesellschaft, der die Knie vor Ungewissheit schlottern, damit am Stück lesen. Und vielleicht erhellt sich ein wenig, was gerade bei unseren Nachbarn vor sich geht. Ich nenne nur einmal das Stichwort "Gelbwesten".

#lesewinter #roman #virginiedespentes #kiwi #frankreich #gesellschaft #vernonsubutex #bewegung #abstiegsangst #mittelschicht #lesen #leselust #literatur