„Viel mehr könne Tristan am Telefon darüber nicht
sagen.“ (Seite 9)
Jimmy und Tristan sind Freunde. Und
das ist ihre Geschichte.
Sie spielt in einem fiktiven
belgischen Dorf in den 1990ern. Und zunächst lernen wir Jimmy kennen. Einen
Zehnjährigen mit besten Schulnoten, eigenwilligen Hobbies, ohne Freunde und
ohne Vater, weil der erst Leute um ihr Geld geprellt hat und dann verschwunden
ist.
Tristan dagegen ist neu im Dorf. Er
kam zusammen mit seinen Geschwistern und den Eltern als Flüchtling aus dem Kosovo
hierher und wurde, obwohl etwas älter als Jimmy, in der Schule direkt neben ihn
gesetzt. Nun hat Jimmy eine Mission.
Er solle
Tristan doch helfen, den Lernstoff aufzuholen. Dass sich hier zugleich die
Möglichkeit bietet, endlich einen Freund zu finden, steht Jimmy klar vor Augen.
Und es lässt sich nur erahnen, wie sehr isoliert dieser schlaue, nerdige
Viertklässler in seinem Dorf bisher gewesen sein muss.
Minutiös und
mit einer so großen Ernsthaftigkeit, wie sie vielleicht nur Kindern eigen ist,
plant Jimmy ein umfassendes Lernprogramm. Anfangs müssen sich die beiden Jungs
mit Händen und Füssen verständigen, aber Tristan lernt schnell. Nach und nach
erfährt Jimmy mehr über die Umstände der Flucht von Tristan und seiner Familie
und das erschüttert ihn sehr. Wie viel Tristan selbst erzählt, und was Jimmy
sich aus den Nachrichten erschließen kann, bleibt in der Geschichte aber
unklar.
Klar ist
jedenfalls, dass die Familie in dem Dorf gut aufgenommen wird und eine so große
Hilfsbereitschaft erlebt, dass all den Geschenken kaum noch Herr zu werden ist.
Während die
beiden Jungs sich weiter anfreunden, arbeitet Jimmy an dem großen Plan, Tristan
an seiner heimlichen Sammelleidenschaft teilhaben zu lassen. Flippo-Karten –
nein, ich hab nur eine verschwommene Vorstellung davon – gibt es in Chipstüten.
In die investiert Jimmy einen Großteil seines Geldes. Um die ausbeute zu
erhöhen, durchforscht er das Dorf in genau geplanten Touren nach verlorenem
Kleingeld. Er wird offenbar so oft fündig, dass er eine fast komplette Sammlung
der unendlich vielen Karten zusammenbekommen hat. Und nicht nur das. Für
Tristan hat er eine zweite Sammlung angelegt, um sie ihm in einem geeigneten
Moment zu schenken und so auch zum Sammeln zu gewinnen.
Da ruft
Tristan an, so beginnt der Roman. Und er lädt Jimmy ein, bei sich und seiner
Familie zu übernachten. Jimmy ahnt sofort, dass dies der große Moment sein
könnte. Lange hat er darauf gehofft und es sich ausgemalt, wie es wäre, in
dieser großen, quirligen Familie aufgenommen zu werden. Ganz anders auf jeden Fall
als in seinem eigenen leeren Zuhause, in dem seine Mutter mehr mit den beiden
kleinen Hunden zu tun hat als sich mit Jimmy zu beschäftigen.
Doch der
Anlass der Einladung zur Übernachtung ist dann doch überraschend und für alle niederschmetternd.
Die Familie hat einen Abschiebebescheid erhalten. Und auch Tristan hat einen
Plan. Für den muss Jimmy bei ihm übernachten.
So weit, so
knapp, ohne zu viel zu verraten. 😊
Wenn es mir
richtig berichtet wurde, ist der Band als Auftragsarbeit entstanden. Denn jedes
Jahr zum Welttag des Buches wird in Belgien ein:e Autor:in angefragt, um einen
Text zu schreiben, der dann in mehrfacher Hunderttausender Auflage gedruckt wird.
Was für eine großartige Idee.
Ich selbst
konnte zu der Lesung kurz nach der #LBM 2024 leider nicht gehen. Aber der MM
war da und brachte mir, sehr begeistert, diesen signierten Band mit. Und schon
ein Jahr später, lag er auf dem Lesestapel an der richtigen Stelle. 😉
Lize Spit
erzählt eher nüchtern und klar und bleibt dicht an Jimmy. Es gelingt ihr
grandios Jimmys Welt mit wenigen Szenen aufzubauen. Was Erwachsenen kindlich verschroben
vorkommen muss, nimmt sie ernst und lässt Jimmys Welt so für sich sprechen.
Durch die
konsequente Perspektive auf und über Jimmy bleibt Tristan etwas schemenhaft,
wie auch seine Familie. Denn natürlich, das erleben wir in Deutschland ja nun
auch seit Jahren, sind geflüchtete Menschen oft auch eine Projektionsfläche für
uns. Mal auf die eine, mal auf eine andere Art. So fragte ich mich
zwischendurch, ob Tristan ebenso sehr Freund von Jimmy ist wie umgekehrt. Aber
klar tritt auch zutage, dass es ein Einanderbrauchen gibt, das
zusammenschweißen kann. In den Plänen, die jeder der beiden für sich schmiedet,
spielt der jeweils andere zumindest eine zentrale Rolle.
Abgesehen
von dem schnell ersichtlichen Plädoyer für Freundschaft und ein offenes aufeinander
Zugehen, verweist die Geschichte auch darauf, einander eben nicht nur als
Projektionsflächen, sondern vielmehr als Menschen mit Eigenheiten und vor allem
einer individuellen Geschichte wahrzunehmen. Denn so kann erst Erkennen und
dann auch Vertrauen entstehen.
Kurz und gut: Manchmal braucht es nicht mal 120
Seiten. Unbedingt lesen!
(Übersetzung: Helga van Beuningen)
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