Sonntag, 30. Januar 2022

Matthias Lehmann: Parallel


„Tse…!“ (Seite 7)

Wenn Liebe keine Worte findet und die gesellschaftlichen Verhältnisse es nicht zulassen, dass Menschen dem eigenen Herzen folgen können, dann verlieren alle. Davon erzählt dieser, mit 450 Seiten wirklich fette Schmöker. Und es ist keine Seite zu viel.

Schon als junger Mann entdeckt Karl, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt und findet sogar ein kleines Glück – trotz Weltkrieg und dem Leben als Soldat. Das Kriegsende soll dann wieder Normalität bedeuten. Und für Karl bedeutet das, trotz seiner Gefühle für Willi, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Willi verschwindet in den Wirren des Krieges, diese Gefühle scheinen damit ebenfalls begraben.

Karl heiratet tatsächlich, wird Vater – doch das Begehren nach dem anderen Leben kehrt zurück, wie eine Erinnerung, die einem plötzlich wieder in den Sinn kommt und dann nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Das Begehren findet ein Ziel und Karl sich in einer Affäre wieder. Seiner Ehe entfremdet er sich damit Stück für Stück, egal wie sehr er es zu verhindern sucht. Als die Affäre nicht mehr zu leugnen ist, die steten Drohungen des Schwiegervaters nichts halfen, bleibt nur noch die Flucht vor dieser Realität und der Familie. Es wird nicht die letzte sein, die Karl zurücklässt.

Matthias Lehmann erzählt uns Karls Geschichte in Rückblenden, während der alt gewordene Karl auf sein Leben zurückblickt und endlich seiner Tochter, erzählen will, wieso er ihr kein Vater sein konnte. So sehr hofft er, dass sie ihm zumindest soweit verzeihen kann, dass er ihr endlich von sich erzählen kann.

Karls Geschichte, die keine fiktive ist, steht für so viele Leben im Verborgenen und Unrecht an homosexuellen Menschen auch weit über die Nachkriegszeit hinaus. Mit dem Blick von heute, ist fast kaum noch zu verstehen, warum Liebe und Begehren so sehr unter Verdacht stehen und verfolgt werden mussten. Ungezählt, wie viele Leben Andersliebender so zerbrochen, und wie viele andere, wie Karls Familien, damit eben auch in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Ich selbst kann nur von Glück reden, dass bei allen Hürden und Belastungen durch das Coming Out für mich nie in Frage kommen musste, mich so sehr zu verstecken. Mir fehlt buchstäblich die Fantasie, mir auszumalen, welchen Leidensdruck es erzeugen mag, sich und sein Begehren fast sein ganzes Leben lang selbst verleugnen zu müssen.

Und auch, wenn die Situation heute für viele zum großen Glück eine andere ist, zeigt die jüngste Vergangenheit insbesondere mit dem Anschwellen rechtspopulistischer Debatten, wie schnell das Rad sich wieder zurückdrehen kann. Heute mögen es Geflüchtete sein oder Corona-Maßnahmen, die zum Anlass genommen werden für Hetze. Es bleibt nur ein Fingerschnippsen im Weltenlauf davon entfernt, dass wieder Andersliebende, Frauen oder wer auch immer das Ziel von Hass und Gewalt werden.

Beim Lesen überlegte ich, ob mir die Geschichte nicht doch zu leise erzählt ist, ob ich nicht doch genauere Verweise auf Zeiten und Orte besser fände. Am Ende kann ich Reinhard Kleists Vorwort aber nur beipflichten, dass hier einfach alles stimmt und kein Strich, kein Ton fehlt.

Kurz und gut: Matthias Lehmann legt ein großartiges Beispiel dafür vor, was Comic kann. Lesen!

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Freitag, 21. Januar 2022

Franziska Schutzbach: Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit


"Frauen haben heute angeblich so viele Möglichkeiten wie nie zuvor. Gleichzeitig sind sie so erschöpft wie nie zuvor. Nach wie vor wird von Frauen verlangt, permanent vertippt zu sein - familiär, beruflich, sexuell, gesellschaftlich. Die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach legt den Finger in die Wunde eines Systems, das von Frauen alles erwartet, aber nichts zurückgibt. Und sie erklärt, wie Frauen sich dagegen auflehnen und damit alles verändern: ihr Leben und die Gesellschaft." (Umschlagtext)

Die beste Buchhändlerin von allen sagt, das Buch lohnt sich. Also durfte es direkt mit mir nach Hause kommen. 🤓

"In unserer Gesellschaft wird Weiblichkeit gleichgesetzt mit Fürsorglichkeit. Frauen sind zuständig für emotionale Zuwendung, für Harmonie, Trost und Beziehungsarbeit - für Tätigkeiten also, die unsichtbar sind und kaum Anerkennung oder Bezahlung erfahren. Sie 'schulden' anderen - der Familie, Männern, der Öffentlichkeit, dem Arbeitsplatz - ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe, ihre Zuwendung, ihre Attraktivität, ihre Zeit.
Es sind diese allgegenwärtigen Ansprüche, die Frauen in die Erschöpfung treiben. Denn - deklariert als 'weibliche Natur' - ist die geleistete Sorgearbeit meist wenig anerkannt und bleibt unsichtbar. Die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach beleuchtet, was die Verfügbarkeitsansprüche für Frauen bedeuten, und zeigt:
Ob als Mütter oder als Mädchen, ob als Schwarze oder weiße Frauen, als Migrantin, trans- oder non-binäre Person, als dicke oder lesbische Frau, ob im Pflegeberuf oder als Unternehmerin - die Verausgabung hat unterschiedliche Ausmaße und unterschiedliche Ursachen.
Dieses Buch wendet sich gegen ein misogynes System, das von Frauen alles erwartet und nichts zurückgibt. Und es erzählt davon, welch vielfältigen Widerstand Frauen gegen die Ausbeutung ihrer Energie, ihrer Psyche und ihrer Körper leisten. Ein Widerstand, der zu einer treibenden Kraft für neue Arbeits- und Lebensweisen wird und die Welt verändert." (Verlagstext)

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Sonntag, 16. Januar 2022

Willem Frederik Hermans: Das heile Haus


"Von Großmeister der niederländischen Literatur, erstmals auf Deutsch: eine Parabel auf den Krieg, brillant und eindringlich. Der Ort des Geschehens, ein Haus mitten auf der Frontlinie, mag heil sein. Seine Bewohner sind es nicht. Sie sind Bürger eines sadistischen Universums, aus dem ein Entrinnen nicht möglich ist. Jedenfalls nicht in diesem aufrüttelnden Buch." (Umschlagtext)

Oha, mal wieder ein Klassiker, der mir bisher nichts sagte. Diese Ausgabe von 2011 versichert aber, Texte des Autors seien in den Niederlanden Schullektüre. Die Prämisse dieser Novelle klingt aber in jedem Fall interessant.

Und es gibt ein Nachwort von Cees Nooteboom. 🤓

(Übersetzung: Waltraud Hüsmert)

"Ein literarisches Kabinettstück, in dem sich die Quintessenz von Hermans´ großem Werk findet: ein Landstrich zwischen den Fronten, in dem völlige Gesetzlosigkeit herrscht und der sich abwechselnd in der Hand von Deutschen, Russen und Partisanen befindet. Zu Letztgenannten gehört der namenlose Erzähler. Im Chaos von Luftangriffen, Panzerwagen und marodierenden Russen trachtet jeder nur danach, mit dem Leben davon zu kommen, so auch der Held. In diesem grauenhaften Durcheinander funktioniert seine Beobachtungsgabe erschreckend präzise, und dadurch wird das Haus, in das er sich flüchtet, zur zweiten Hauptfigur der Geschichte. Es ist verlassen und so groß, dass er lange für dessen Erkundung braucht. Am Ende bleibt das Haus ausgebrannt und zerstört zurück, mitsamt seinen Bewohnern. Bewohnern eines sadistischen Universums des Mutwillens und Missverständnisses." (Klappentext)

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Donnerstag, 13. Januar 2022

Kübra Gümüşay: Sprache und Sein


"Wie können wir als Gesellschaft über unsere Probleme sprechen, ohne den Hass der Rechten zu nähren - respektvoll, wohlwollend, ohne Angst vor Fehlern?
Wie können wir frei sprechen?" (Umschlagtext)

Wenn alle irgendwie zunehmend gereizt sind, gesellschaftliche Debatten nur noch mit harter Polarisierung einhergehen und Hass aus dem Kommentaren im Netz ins richtige Leben einsickert, dann sind die Fragen oben und solche Bücher wohl mehr als berechtigt.

"Dieses Buch folgt einer Sehnsucht: nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Nach einem Sprechen, das sie in ihrem Facettenreichtum existieren lässt. Nach wirklich gemeinschaftlichem Denken in einer such polarisierenden Welt. Kübra Gümüşay setzt sich seit langem für Gleichberechtigung und Diskurse auf Augenhöhe ein. In ihrem ersten Buch geht sie der Frage nach, wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt. Sie zeigt, wie Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden - und sich nur als solche äußern dürfen. Doch wie können Menschen wirklich als Menschen sprechen? und wie können wir alle - in einer Zeit der immer härteren, hasserfüllten Diskurse - anders miteinander kommunizieren?" (Verlagstext)

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