Montag, 30. November 2020

Jonas Eika: Nach der Sonne


 "Ein IT-Berater stellt fest, dass die Bank, für die er arbeitet, mitten in Kopenhagen in einem Krater versunken ist. Ein Ehepaar lässt sich in der Wüste Nevadas nieder, wo die Menschen auf das Erscheinen von Außerirdischen warten. Eine Obdachlose findet in den grauen Trümmern Londons ein Zuhause und verliert es wieder. Und unter dem knallblauen Himmel Cancuns tragen scheinbar gefügige Beach Boys den reichen Urlaubern die Sonnenschirme hinterher. Fünf sinnliche, geheimnisvolle Erzählungen über dunkles Begehren und kapitalistische Ausbeutung, über Liebe, Hoffnung und Solidarität in einer unsicheren, technologisch flirrenden Welt, in der Körper, Himmel und Licht die einzigen Konstanten sind." (Klappentext)

Ok ok, ich war bei dem dunklen Begehren schon interessiert. 🤷‍♂️🤓

(Übersetzung: Ursel Allenstein)

#leseherbst #erzählung #jonaseika #hanser #egoismus #gesellschaft #welt #lesen #leselust #bücher #literatur

Sonntag, 29. November 2020

John Burnside: Glister



(Übersetzung: Bernhard Robben) 

„Wo ich jetzt bin, kann ich noch die Möwen hören. Alles andere verklingt, wie ein Traum gerade dann verklingt, wenn man aufwacht und sich an ihn erinnern will, nur die Möwen sind noch da, wild und heiser krächzend wie immer.“ (Seite 7)

 

Ich will ja gar nicht mystifzieren, wie ich zu Büchern finde oder sie zu mir. Im Allgemeinen führen Bücher und Autor:innen schlicht zu noch mehr Büchern und Autor:innen. Ein bestehendes und über Jahre hinweg gepflegtes Netz wird dichter und dichter gewebt und Masche um Masche erweitert. Das entstehende Muster ist nicht zwingend vorhersehbar, gibt bei der Suche nach neuem Lesestoff aber einen gewissen Halt und bietet Orientierung.

 

John Burnsides „Glister“ konnte ich gar nicht anders finden als durch einen reinen Zufall. Das widerspricht dem eben Behaupteten überhaupt nicht. Die Möglichkeit des Zufalls, so selten er auch eintrifft, sorgt für das Glitzern im Gewebe. Das Buch also hat mich gewählt. So muss es gewesen sein. Denn ich schaue in der besten aller Buchhandlungen wirklich selten nach den antiquarischen Angeboten. Möglicherweise war es auch K, die beste aller Buchhändlerinnen, die mir das Buch in die Hand drückte. Ganz objektiv kann es aber nicht anders gewesen sein, als das dieses Buch mich wählte.

 

Der Ort der Story ist Trostlosigkeit pur. Ein kleines Städtchen an der Küste hatte eine Zeitlang Glück. Eine große Chemiefabrik wurde gebaut, Jobs und bescheidener Wohlstand hielten Einzug. Die Fabrik ist bereits schon wieder lange Geschichte. Zurück blieben rostige Ruinen, verseuchte Böden und Wälder, Geschichten von merkwürdig deformierten Tieren im Meer und an Land und eine katatonisch erstarrte Stadt. Die Bewohner:innen sind entweder krank von den Nachwirkungen der segensreichen Chemiefabrik oder krank von den Krankheiten der anderen. Niemand kann hier leben wollen. Wer hier lange genug lebt, hat jede Fantasie eingebüßt, die ein Leben woanders auch nur denkbar macht. Ist es da ein Wunder, dass Jungs im Teenageralter sich davonstehlen, auf Nimmerwiedersehen?

 

Mit dieser Begründung können sich die Bewohner:innen, die Eltern ganz wunderbar zufrieden geben. Beim ersten Jungen war es plausibel. Warum sollte es das bei den anderen, die ihm über die Jahre folgten nicht auch sein? Der Polizist des Städtchens hat schließlich ermittelt und genau das bestätigt. Dass er etwas anderes gesehen hat und an seinem Schweigen zu ersticken droht – nun, da waren alle schon wieder mit den eigenen Sorgen zu beschäftigt, um das zu bemerken.

 

Leonard ist der Lichtblick in der Geschichte und zugleich ihr Erzähler. Der Fünfzehnjährige ist dabei nicht mal außergewöhnlich. Abgesehen davon, dass er nicht hinnehmen kann und will, dass auch sein bester Freund einfach so auf eigene Faust verschwunden sein soll.

 

Er will eigentlich auch nur seine Ruhe, streift liebend gern über die zerfallende Industriebrache, schaut den Möwen dort zu. Fast zufällig kommt er zum Lesen, befeuert durch den richtigen Bibliothekar zur richtigen Zeit. Abgesehen davon macht er, was Teenager hier machen können, um sich doch ein wenig lebendig zu fühlen. Er atmet tief die verseuchte Freiheit, die Fabrikruine bietet und fickt seine Freundin. Romantischer wird das in der Story auch nicht.

 

Spätestens als er sich recht widerwillig einer jugendlichen Gang anschließt, die sich damit abreagiert, dass sie sich an allem austobt, was schwächer erscheint, ist er zu einer treibenden Kraft einer Entwicklung geworden, die mit den verschwundenen Jungen schon lange im Gange ist. Keine Sorge, bei dieser nebulösen Beschreibung belasse ich es auch. ;)

„Glister“ ist eines der Bücher, das mich von der ersten Seite an in seinen Bann schlug, ohne dass ich recht sagen könnte, was es ist. Irgendwo las ich die Empfehlung, man solle dieses Buch nur bei Tageslicht lesen. Und ja, es ist ein ganz fein gesponnener und gar nicht mal zurückhaltend formulierter Horror, der hier aus den Seiten strömt. Stephen King zum Beispiel konstruiert ja gern erst eine uns ganz wunderbar vertraute Realität, die er dann nach und nach kippen lässt. John Burnside wiederum wirft uns einfach direkt in den Wahnsinn.

 

Dass Burnside sich als Dichter bereits einen Namen gemacht hat, las ich erst im Nachhinein. Was seine wirklich grandiose Sprache in dem Roman angeht, war das fast erahnbar. Leonard als Ich-Erzähler spricht natürlich kein Stück wie ein Teenager. Und trotzdem klingt er so echt wie es nur geht, insbesondere wenn es um sein so gar nicht romantisches Verhältnis zu Mädchen geht oder auch als er, um einen Foltermord zu verhindern, selbst zum Mörder wird.

 

Kurz und gut: Alter, krasser und krass guter Stoff! Lest Burnside!

 

#leseherbst #roman #johnburnside #knaus #schottland #gesellschaft #geisterstadt #umwelt #totemenschen #glitzern #horror #lesen #leselust #lesenswert #bücher #literatur

Samstag, 28. November 2020

Zoë Beck: Paradise City


„Die Luft ist kühler als in der Stadt, es sind nur dreiunddreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad. Es riecht nach Wald. Sie hört einen Specht hämmern, einen Kuckuck rufen. Sie steht noch einen Moment einfach da und lauscht, hört andere Vögel, versucht, sie einzuordnen. Ihr Gesang füllt die Stille. Liina weiß, dass sie der einzige Mensch weit und breit ist.“ (Seite 7)

 

Der Deal ist ganz einfach. Du willst die beste Gesundheitsfürsorge für dich? Ärzte, die sofort wissen, was du hast, deine Vorgeschichte kennen? Medikamente, die geliefert werden, wenn du sie brauchst? Dafür braucht das System nur deine Daten – in Echtzeit natürlich. Es ist nur ein kleiner Chip, den du im Körper trägst. Dazu gibt es noch ein praktisches Smart Case, dass du einfach immer dabei hast. Geht es dir schlecht, ist sofort jemand da, der sich um dich kümmert. Du brauchst dringend Hilfe vor Ort? Kein Problem, das System weiß ja, wo du bist, und schickt jemanden vorbei. Noch nie war es so einfach, gesund zu bleiben.

 

Ok, ein wenig mitmachen musst du natürlich schon. Du musst auch gesund bleiben wollen. Und wenn du es willst, dann willst du es auch für deine Lieben um dich. Sie sollen sich auch um sich kümmern. Überhaupt ist gar nicht einzusehen, dass jemand quasi vorsätzlich ungesund lebt – und Kosten verursacht. Zum Glück sorgt das System dafür, dass alle den richtigen Job haben und sich nur an Orten aufhalten, wo sie auch hingehören. Es geht schließlich um unser aller Gesundheit.

 

Achja, es geht übrigens nicht um Corona. Auch wenn dieser Thriller im Sommer dieses in jeder Hinsicht besonderen Jahres erschienen ist. Und bevor Missverständnisse aufkommen: Ja, es geht um eine Gesundheitsdiktatur vor dem Hintergrund einer zuvor grassierenden, verheerenden Seuche. „Querdenker:innen“ könnten jetzt geneigt sein, ihre abstrusen Verschwörungsvorstellungen in einem dystopischen Thriller beschrieben zu sehen. Aber weit gefehlt.

 

Beginnen wir mit dem Setting. Der Klimawandel ist echt und er ist da. Der Meeresspiegel ist angestiegen, die Küste verläuft jetzt deutlich anderswo. Die Menschen haben sich in eine Region im Landesinneren zurückgezogen, wo sie jetzt geballt in einer Megacity leben – Metropolregion Frankfurt am Main. Das Land jenseits der Megastadt liefert Rohstoffe und wird darüber hinaus immer mehr zum vergessenen Land. Berlin ist nur noch ein touristisches Ausflugsziel und ringsum in Brandenburg heulen die Wölfe. Da schluckt schon manche:r Querdenker:in.

 

Implantierte Chips, Überwachung und Steuerung der Gesellschaft anstelle von gesellschaftlicher Solidarität. Was zunächst klingt wie die feuchten Träume der Bill-Gates-ich-habs-schon-immer-gewußt-Apologeten ist im Grunde die logische und autoritäre Fortsetzung ihres Egoismus in einem Staat, der diese Haltung einpackt und wendet in eine Totalüberwachung. Dafür gibt’s in den Staatsmedien auch das, was uns all die alternativen Weltverdreher als Wahrheit verkaufen wollen: gefühlte Fakten statt fundierter Wissenssuche, nix mehr mit faktenbasierter Debatte. Dass das Personal der Story auch noch maximal divers zusammengesetzt ist, in fast jeder Hinsicht, ist da nur noch das Topping.

 

Natürlich gibt es in dieser sterilen Welt noch Menschen, die individualistisch genug veranlagt sind, um anzuecken. Nicht, weil ihr Ego zu groß wäre, sondern weil sie nicht glauben können, dass es da nichts mehr jenseits der hübsch modellierten Welt um sie herumgäbe. Nach und nach, und auch in geschickt gesetzten Rückblenden, entdeckt insbesondere die Hauptfigur Liina immer mehr blinde Flecken und stößt auf Fragen. Wenn nicht alle Menschen in der Megacity leben, wer lebt dann eigentlich jenseits davon? Warum verschwinden Menschen immer wieder? Was passiert mit denen, die sich nicht anpassen?

 

Ihr merkt schon, ich drücke mich darum, allzu viel von der Story zu verraten. ;)

 

Mich hat beeindruckt, wie wenig man eigentlich von heute schon vorhandenen und potentiellen Technologien weiterdenken muss, welche wie salonfähig gewordenen autoritären Gelüste konsequent weitergesponnen eine solche Welt, ein solches Deutschland ergeben, wie wir es in dieser Story vorfinden.

 

Brandaktuell und dringlich ist die Debatte, die darunter liegt. In welcher Welt wollen wir leben? Wollen wir uns gesellschaftliche Solidarität leisten, die ein unentwegtes demokratisches Mitmachen benötigt? Wollen wir das technologische Entwicklungen gesellschaftliches Miteinander ersetzen?

 

Klar, so ein Thriller lässt sich auch gut einfach als Unterhaltung an langen Herbstabenden lesen. Der Vorteil dieses Thrillers ist, dass er nicht nur gut erzählt, die Story fein gesponnen ist, sondern zugleich ein Nachdenken über uns im Hier und Heute angestoßen wird.

 

Kurz und gut: Ich bin ja eh ein Fanboy. Aber glaubt mir, ganz objektiv betrachtet: Lest Zoë Beck!

 

#leseherbst #roman #zoebeck #suhrkamp #thriller #dystopie #deutschland #gesundheitscheck #überwachung #megacity #uckermark #lesen #leselust #lesenswert #bücher #literatur

Donnerstag, 26. November 2020

Blätter für deutsche und internationale Politik 11'20





Wenn ich hier so mit Lektüren und Lesestapeln rumprolle, unterschlage ich meist eine regelmäßige Lesekost. 
😱😅

Die Novemberausgabe der Blätter drehte sich - gar nicht unerwartet 🙃 - um die USA und die Wahlen dort.

Das Ergebnis lag natürlich noch nicht vor, als diese Ausgabe Anfang November erschien. Aber sie versammelt etliche weitblickende Texte von schlauen Leuten, die zu mehr Lektüre einladen.

Darum ist es doch mal ein guter Moment, auf diese feine Kost hinzuweisen. Ist ja auch bald Weihnachten, gute Vorsätze wollen gefunden werden ... ihr wisst schon. 🤓

#leseherbst #magazin #blätter #politik#deutschland #welt #zeitgeschehen#demokratie #polbil #lesen #leselust#lesenswert #indiebook

Dienstag, 24. November 2020

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit



"Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen: Dabei droht sie uns jedoch stumm und fremd zu werden: Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren." (Umschlagtext)

"Das zentrale Bestreben der Moderne gilt der Vergrößerung der eigenen Reichweite: Die Welt soll ökonomische und technisch verfügbar, wissenschaftlich erkennbar und beherrschbar, rechtlich berechenbar, politisch steuerbar und zugleich alltagspraktisch kontrollierbar und erfahrbar gemacht werden. Diese verfügbare Welt ist jedoch, so Hartmut Rosas brisante These, eine verstummte, mit ihr gibt es keinen Dialog mehr. Gegen diese fortschreitende Entfremdung von Mensch und Welt setzt Rosa die 'Resonanz', als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich nicht vorhersagen oder planen, daher eignet dem Ereignis der Resonanz immer auch ein Moment der Unverfügbarkeit." (Verlagstext)

Man könnte meinen, dass es in diesem Jahr einige Möglichkeiten gab, das hautnah zu erleben.

#leseherbst #hartmutrosa #suhrkamp #gesellschaft #kapitalismus #konsum #konsumgesellschaft #wiewirleben #lesen #leselust #bücher