Sonntag, 27. Oktober 2019

Philip Roth: Nemesis



Übersetzung: Dirk van Gunsteren
„Den ersten Poliofall in jenem Sommer gab es Anfang Juni, kurz nach dem Memorial Day, in einem armen italienischen Viertel auf der anderen Seite der Stadt.“ (Seite 7)

Diese Lobeshymnen, die Verlage auf die Buchumschläge drucken, sind ja durchaus oft genug mit Vorsicht zu genießen. Bei Philip Roth sind sie leider kaum mehr übertrieben. 😉

Nach einigen Ausflügen zu neueren Autor*innen zog es mich mal wieder zu einem der Granden der zeitgenössischen Literatur hin. Das zog dann eine interessante Unterhaltung mit unserer Lieblingsbuchdealerin nach sich. Aber der Reihe nach. ^^

Knapp über 200 Seiten – mehr braucht Philip Roth nicht, um seine Geschichte von Mr Cantor im Newark der frühen Vierzigerjahre zu entfalten. Und die hat es in sich.

Ausgangspunkt ist die alljährlich wiederkehrende Polioepidemie, die im Jahr, in dem die Geschichte spielt, besonders grassiert. Teile der Stadt sind stark betroffen, während im jüdisch geprägten Viertel die Zahlen noch überschaubar bleiben. Mr Cantor, die Hauptfigur des Buches, ist ein junger Mann, zu klein und mit zu schlechten Augen für den Dienst in der Army, der als frischgebackener Sportlehrer die Ferienaufsicht über einen Sportplatz führt. Hier betreut und trainiert er die Kinder des Viertels, um sie von der Epidemie abzulenken und zugleich körperlich zu stärken. Alles ist wohlgeordnet, sein Ruf tadellos – bis die Polio dann doch ihren Weg ins Viertel findet.

Roth erzählt die Geschichte von Mr Cantor, der alles richtig machen möchte und zugleich auch geplagt davon ist, nicht wie seine Freunde dem Land im Krieg dienen zu können. Das kompensiert er mit seinem Engagement für die Kinder des Viertels. Als nach und nach Kinder, die er betreut hat, erkranken und auch sterben, gelingt es ihm gegen jede Vernunft immer weniger, das als persönliches Versagen zu verstehen.

Seine Freundin, die den Sommer über Kinder in einem Ferienlager außerhalb betreut, ihn endlich überzeugen kann, eine freie Stelle in dem Camp anzutreten, scheint sich für ihn zunächst alles zum Besseren zu wenden. Doch die Polio macht auch vor dem entlegenen Ferienlager keinen Halt.

Der namenlose Erzähler, eines der Kinder aus dem Viertel, berichtet Jahre später von Mr Cantor und davon, wie dessen Leben nach diesem Sommer der Epidemie weiterlief. Ein Leben, in dem der aufrechte Mr Cantor das Gefühl der Schuld nie wieder verlassen sollte.

Schon nach einigen wenigen Seiten musste ich das Buch gleich zu Beginn atemlos zur Seite legen. Atemlos, weil ich fasziniert war, wie wenig Roth braucht, um mit einer dichten Beschreibung, die dennoch unglaublich gut zu lesen ist, das Newark der Vierzigerjahre zum Leben zu erwecken und die Lesenden direkt auf den Sportplatz zu katapultieren, wo Mr Cantor gerade eine Pause zwischen den Ballspielen beaufsichtigt.

Warum gelingt Roth das so derart mühelos? Wie bekommt er das hin, dass jedes Wort sitzt, ohne zu pathetisch zu geraten, ja fast nüchtern aber eben doch so lebendig? Warum gibt es diese Großschriftsteller, die so erfolgreich sind, dass es ja schon fast wieder gruselig ist. Vergleichbar ist das fast schon mit Musikern, wenn ich an das eine oder andere Konzert mit den großen Alten denke: Elton John, Sting, Joe Cocker … Du weißt, was du willst. Und das bekommst du auch, absolut zuverlässig und ohne Wenn und Aber. Wie machen die das nur?

Ich will gar nicht die ganze Unterhaltung mit unserer Lieblingsbuchdealerin wiedergeben. Aber den Kerngedanken, der es auch für mich auf den Punkt brachte, den möchte ich zitieren: Die haben etwas zu erzählen und nicht nur eine Idee.

Puh, zu diesem Satz ließen sich ganz vortrefflich unzählige Schreibseminare und Workshops abhalten. Natürlich ist das auch zugespitzt formuliert, trifft aber eben doch genau den oft wunden Punkt beim Schreiben. Worum geht es im Kern wirklich? Ist das nicht vollends klar, fransen Geschichten, selbst wenn sie gut erzählt sind, trotzdem aus. Das ist, ganz nebenher, gar kein Argument dafür, Autor*innen mit ihren Büchern nicht auch sich entwickeln zu lassen und sie auch zu lesen, zu entdecken. Aber für den Moment möchte ich dem beeindruckenden Können von jemandem wie Philip Roth auch gern einfach huldigen. 😉

Kurz und gut: Was gäbe ich darum, so schreiben zu können! *seufz* Lesen! 😉

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