Sonntag, 25. Juni 2023

Donald Woods: Steve Biko. Schrei nach Freiheit


„Bantu Steve Biko verkörperte neben Nelson Mandela und Desmond Tutu die große Hoffnung der unterdrückten Schwarzen in Südafrika. Von ihm hofften sie, in Freiheit und Selbstbestimmung geführt zu werden. Doch am 12. September 1977 starb Biko an den Folgen der grausamen Foltermethoden der südafrikanischen Sicherheitspolizei.
Donald Woods, weißer Journalist und Steves Freund, riskierte sein eigenes Leben, um die Umstände um den Tod des Führers der Black Consciousness Bewegung aufzudecken.
Sein Buch über Steve Biko ist eine Protestschrift gegen das menschenunwürdige Regime in Südafrika, gegen Gewalt und Terror.“ (Umschlagtext)

Etwas runtergerutscht auf dem Stapel war dieses #fundstück aus Pankow. Gerade im Sommer werden hier richtig viele Bücherkatons vor die Türen gestellt. Ein Stöbern lohnt sich doch schon mal.

Ich hatte den Namen von Steve Biko ganz weit im Hinterkopf und hab mich dann aber über dieses bereits 1988 erschienene Taschenbuch gefreut. Ob es später noch einmal aufgelegt wurde, hab ich noch nicht herausgefunden.

(Übersetzung: Hans Jürgen Baron von Koskull/ Oliver Stephan)

„6. September 1977. Der Bantu Steve Biko wird von der südafrikanischen Sicherheitspolizei bei einer Routinekontrolle verhaftet. Es folgen endlose Nächte mit Verhören und unmenschlichen Folterungen. Steve Biko überlebt die Tortur nicht. Der Tod des Begründers und Führers der Black Consciousness Bewegung erschüttert Südafrika und die ganze Welt.
19. Oktober 1977. Donald Woods, südafrikanischer Journalist und Regimekritiker, wird unter Hausarrest gestellt. Bedroht vom Sicherheitsdienst gelingt Woods und seiner Familie zuletzt auf abenteuerlichem Weg die Flucht aus dem Apartheidstaat.
Im Londoner Exil setzt Donald Woods die Nachforschungen über den Tod seines Freundes Steve Biko fort. Zuletzt erreicht ihn auch noch der Bericht von Peter Jones, jenem Mann, der mit Biko zusammen verhaftet wurde. Das so entstandene Buch ist nicht nur das glänzende Porträt eines Mannes von unvergleichlicher Aufrichtigkeit, eines Führers von Charisma, auf den sich nach der Verurteilung von Nelson Mandela die Hoffnungen von zehn Millionen schwarzen Südafrikanern stützen. Es ist zugleich die Geschichte der Rassendiskriminierung in Südafrika, wo sich eine weiße Minderheit durch menschenunwürdige Gesetze, durch Gewalt und Terror an der Macht hält.
Richard Attenborough, der berühmte Gandhi-Regisseur, nahm das Buch von Donald Woods als Grundlage für seinen großen, gleichnamigen Film über Steve Biko.“ (Verlagstext)


#lesesommer #sachbuch #donaldwoods #goldmann #südafrika #apartheid #stevebiko #biografie #widerstand #folter #freiheitsampf #rassismus #zeitgeschichte #polbil #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Dienstag, 20. Juni 2023

David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar


„Dovele, der Comedian, tritt auf.
‚Nun denn, Brüder und Schwestern, seid ihr bereit? Hier kommt die irrsinnig komische Geschichte über die erste Beerdigung meines Lebens …‘
Es ist Doveles eigene Geschichte, die er erzählt, und bald weiß das Publikum nicht mehr, ob es lachen oder weinen soll.“ (Umschlagtext)

Nach zwei Bücherleihgaben reiht sich hier ein #fundstück vom Wegesrand doch bestens ein. Was sich beim Gassigehen halt so findet.

Mich freut es. Der Autor ist ja kein Unbekannter, auch wenn ich bisher noch nichts von Grossmann gelesen habe. Vielleicht ist es ja eine neue Entdeckung. 😊

(Übersetzung: Anne Birkenhauer)

„Dovele, der Comedian, kommt auf die Bühne, als hätte ihm jemand einen Tritt verpasst. Er rappelt sich auf, reckt den Hintern in die Luft und beginnt seinen gewaltigen Redeschwall, bei dem das Publikum bald nicht mehr weiß, ob es lachen oder weinen soll.
Für eine gute Pointe gibt Dovele alles, und heute ist sein Geburtstag. Ein Jugendfreund, inzwischen pensionierter Richter, den er zu seinem Auftritt eingeladen hat, hört ihm zu. Und zufällig sitzt in der ersten Reihe auch eine sehr kleine Frau, die früher Doveles Nachbarin war. Sie erinnert sich, dass er als Kind oft auf den Händen lief. Er tat das, um seine Mutter zum Lachen zu bringen und damit ihm keiner ins Gesicht schlug. Im Laufe des Abends erzählt der Comedian zwischen vielen Witzen eine tragische Geschichte aus seiner Jugend. Es geht um Freundschaft, Liebe, Verrat und eine sehr persönliche Abrechnung auf dem Weg zu einer Beerdigung. Dem Kleinstadtpublikum ist das Lachen vergangen. Den Leser hält David Grossman mit diesem grandiosen Roman bis zur letzten Zeile gefangen.“ (Klappentext)

#lesefrühling #roman #davidgrossman #hanser #israel #comedian #clown #kleinstadt #rückschau #tragik #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Sonntag, 18. Juni 2023

Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung


„Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte.“ (Umschlagtext)

Nach vielen Runden der immer mal wieder aufkommenden Ost-Debatte hätte ich ja inzwischen mal Interesse an einer Studie dazu. In welchen Medien kommen diese Debatten auf? Wie sind diese Medien eigentlich geprägt? Gibt es wiederkehrende Anlässe für das Wiederaufgreifen der Debatte? Wie verlaufen diese Debatten? Wie enden diese Debatten und mit welchen gesellschaftlichen Ergebnissen?

Die beste Bücherfrau von allen sagt, ich müsse das lesen. Und so kam ich zum zweiten #leihbuch in einer Woche. 😊

„Seit 1990 macht der deutsche Osten die Erfahrung, von der Gestaltung unserer Demokratie ausgeschlossen zu sein. Es gibt zwar formale, aber nur wenige reelle Chancen auf Teilhabe, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in gesellschaftlich relevante Teilsysteme, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen. Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft beläuft sich selbst Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung auf durchschnittlich 1,7 Prozent – ein erschreckender Beleg für die Ungleichheit und systematische Benachteiligung der Ostdeutschen. Noch heute fehlen vielen von ihnen die Netzwerke, der Stallgeruch, die Verwandtschaft im Habitus – mit einem Wort: alles, nämlich das kulturelle, symbolische, soziale und ökonomische Kapital.
In seinem persönlich geprägten, zornigen Text zeigt der Leipziger Germanist Dirk Oschmann, dass wir dringend etwas an der Konstruktion des Ostens durch den Westen ändern müssen. Nur dann wird es uns gelingen, die Demokratie als politisches System wie auch die Gesellschaft als soziales Gebilde in einer stabilen Balance zu halten.“ (Klappentext)

#lesefrühling #sachbuch #essay #dirkoschmann #ullstein #deutschland #ostdeutschland #transformation #benachteiligung #debatte #gesellschaft #politik #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Donnerstag, 15. Juni 2023

Gertje Graef: Die Unbekannten. Ein ostdeutsches Dorf und seine Frauen


„Ein Dorf nahe der deutsch-polnischen Grenze. Sechs Monate lang hat Gertje Graef hier gelebt und Gespräche mit Frauen geführt, sie zu ihren Lebenswegen und ihrem Alltag befragt. Da ist die Geografie-Lehrerin, die nie Ebbe und Flut sehen durfte, weil es dieses Phänomen nur im ‚kapitalistischen Ausland‘ gab. Da ist die transsexuelle Landwirtin, die zu LPG-Zeiten ihre Neigungen verbergen musste und noch heute vorsichtig damit umgeht. Da ist die Heilerin, die aus spiritueller Verzweiflung Stadtflucht statt Republikflucht beging. Und da ist die Biobäuerin aus Stuttgart, die mit ihrem LPG-geprägten männlichen Personal streitet, während eine konventionelle Landwirtin um den Erhalt des vom Vater übernommenen Betriebes bangt. Die Autorin spricht mit den Älteren, die sich noch gut an die Flucht aus dem heutigen Polen erinnern können, und mit einer Polin, die in ihrem Zwölfseelendorf auch nach einem Jahrzehnt noch eine Fremde ist. In vierundzwanzig Frauenporträts entwirft Gertje Graef die weibliche Kartografie einer dörflichen Gemeinschaft in Mecklenburg-Vorpommern.“ (Umschlagtext)

Heute präsentiere ich mal ein Leihbuch, das meine Aufmerksamkeit spielend erringen konnte.

Frauenleben in einem Dorf im ostdeutschen Niemandsland – ich finde, das klingt wirklich spannend. Die Ankündigung der 24 Kurzporträts deutet schon an, dass es hinter dem Klischeebild der Frau auf dem Dorf so einiges zu entdecken gibt: Brüche, Wünsche, Hoffnungen.

Selbst ohne den Bezug zu Ostdeutschland und damit einer spezifischen Historie klänge das schon hinreichend interessant. Immerhin ist unsere Wahrnehmung von Gesellschaft immer noch ziemlich durch den Blick auf Männer geprägt. Nicht ohne Grund wird zumeist der ‚kleine Mann‘ als Topos bemüht, während von den entsprechenden Frauen eher selten die Rede ist – wenigstens im Mainstream.

Selbstverständlich gilt das auch für die Analyse und Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, die hier im Mittelpunkt steht. Wenn das nicht spannend klingt, dann weiß ich es auch nicht. 😊

#lesefrühling #sachbuch #gertjegraef #quintus #deutschland #dorfleben #mcpomm #frauen #frauenleben #biografie #porträt #indiebook #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Dienstag, 13. Juni 2023

Ahmad Danny Ramadan: Die Wäscheleinen-Schaukel


„Irgendwann stellen der Erzähler und seine Freunde einfach das Radio lauter, wenn auf Damaskus´ Straßen Schüsse fallen. Oder sie tanzen bis zur Sperrstunde. Aber es gab auch Zeiten, in denen ein Junge auf einer Schaukel aus Wäscheleinen sich hoch in den blauen Himmel schwingt, den Duft nach Jasmin in der Nase. Jahrzehnte später wird dieses funkelnde Mosaik aus Erinnerungen an eine Kindheit in Syrien, an Liebe im Verborgenen, aber auch an Krieg und Homophobie zum Rettungsanker für zwei Geliebte, die einander nicht loslassen wollen.“ (Umschlagtext)

Die Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg versammelt Texte aus Ländern, die literarisch nicht so oft auf der westlichen Weltkarte der Literatur auftauchen. Ich finde das immer wieder überaus spannend, weil es Hirn und Herz öffnet für die Welt.

Angesichts dessen, dass wir medial lange Zeit nur Bürgerkriegs- und Fluchtgeschichten im Zusammenhang mit Syrien wahrnehmen konnten, bevor das Land und seine Menschen wieder aus dem Fokus verschwanden – und letztere allenfalls als Flüchtende und Problem Präsenz erlangten, angesichts all dessen ist es noch viel wichtiger, Menschen aus Syrien wenigstens literarisch zu Wort kommen zu lassen. Leider lässt sich das für so viele anderen Weltgegenden und Menschen dort ähnlich formulieren.

(Übersetzung: Heide Horn, Christa Prummer-Lehmair)

„Es ist eine schöne Erinnerung: Der Vater baut auf dem Balkon aus alten Wäscheleinen eine Schaukel, auf der der Sohn wie mit ausgebreiteten Flügeln über das sonnige Damaskus fliegt. Dasselbe Damaskus mit seinen verwinkelten Gassen und dem Duft nach blühendem Jasmin, in dem der Erzähler seine erste große Liebe erfährt, sich zu seiner Homosexualität bekennt und dafür sowohl auf der Straße wie auch in der Familie bitter bezahlt. Später explodieren Bomben, tanzt die Community in versteckten Bars, wo die Musik den Kriegslärm übertönt, werden Freunde verhaftet, weil sie zufällig ein weißes T-Shirt tragen, das Symbol für Demokratie und Freiheit. Da sind aber auch Freundschaft und Liebe, die vor dem Absturz bewahren.
Es sind berührende, tragische Geschichten wie diese, die der hakawati viele Jahre später, in Vancouver, seinem schwerkranken Geliebten erzählt, um ihn ein bisschen länger bei sich zu behalten, um den Tod, der schon mit am Tisch sitzt, noch eine Weile zu besänftigen.“ (Klappentext)


#lesefrühling #roman #ahmaddannyramadan #büchergilde #weltempfänger #orlandaverlag #syrien #damaskus #queer #homophobie #krieg #liebe #familie #gesellschaft #diktatur #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Sonntag, 11. Juni 2023

Fernando Aramburu: Patria


(Übersetzung: Willi Zurbrüggen)

„Da geht sie, die Arme, um an ihm zu zerbrechen.“ (Seite 7)

„Patria“ erzählt auf über 700 Seiten von der Unmöglichkeit zu Verzeihen und warum es so überlebenswichtig ist, es dennoch zu versuchen. In einem Mikrokosmos lässt Aramburu zwei ursprünglich befreundete Familien in einem baskischen Dorf sich entfremden bis hin zum Mord. Der ist aber nur der Auftakt zum nicht weniger tragischen Unvermögen, den Hass zu überwinden.

Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund des Kampfes der ETA, der baskischen Befreiungsorganisation, die aus dem Untergrund das Leben der Dorfbewohner immer stärker prägt. Der Anfang der hier erzählten Geschichte liegt irgendwo in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts. Die ETA gilt den einen als Heldin des baskischen Volkes, für dessen Befreiung sie kämpft. Ein sozialistisches, eigenständiges Baskenland soll es werden, im Gegensatz zum zentralistischen, in Francos faschistischem Schatten stehenden Spanien.

Die Väter der beiden Familien, einer ist Unternehmer, der andere Fabrikarbeiter sind befreundet, widmen sich sonntags gemeinsam dem Radsport. Die Mütter gelten ebenso als Freundinnen. Die jeweils zwei Kinder wachsen gemeinsam auf. Parallel zur eigentlich idyllischen Freundschaft der Familien politisiert sich die Stimmung im Dorf zusehends. Bist du für oder gegen die ETA und deren Kampf? Die Dorfjugend wird vom Wirt einer zentralen Kneipe für die ETA angeworben oder zumindest politisiert, deren Eltern hören Ähnliches in den Predigten des Pfarrers. Unmerklich ziehen sich Gräben durchs Dorf, zwischen Freunden aber auch Familienmitgliedern. Wie stehst du zum Kampf der ETA?

Der Unternehmer gerät, womöglich weil er Unternehmer und damit ja Kapitalist ist, ins Visier der ETA. In anonymen Briefen wird er, wie viele andere auch, dazu aufgefordert, „freiwillig“ an die ETA zu spenden. Zunächst lässt er sich das gefallen. Als er in Verzug gerät, tauchen Gerüchte über ihn im Dorf auf. Sprüche gegen ihn werden an Mauern geschrieben. Er wird zum Freiwild erklärt, als er auf diese Einschüchterungen nicht eingehen will. Sein Radsportfreund zieht sich, wie viele andere auch, von ihm zurück. Sie alle wollen nicht riskieren, dass der Schatten, der auf dem Unternehmer nun lastet, auch sie betrifft.

Der Fabrikarbeiter selbst ist nicht einmal entschiedener Befürworter der ETA. Aber seine Frau und der älteste Sohn klingen immer entschiedener, fanatischer. Also fügt er sich drein. Und ganz ohne dass es einen großen Krach oder Streit gegeben hätte, haben sich die Familien entfremdet. Die Kinder spielen nicht mehr zusammen, die Väter verbringen ihre Freizeit getrennt, die jeweils sehr bestimmenden Mütter finden nicht mehr zueinander.

Die Situation um den Unternehmer verschärft sich über die Zeit, in der sich gleichzeitig der Älteste des Fabrikarbeiters bei der ETA bewirbt, in den Untergrund geht und einer ihrer Kämpfer wird. Als der Unternehmer schließlich tatsächlich von einem Kommando der ETA ermordet wird, steht der Verdacht im Raum, dass der Sohn seines ehemaligen Freundes der Täter sein könnte.

Jahre vergehen, in denen das Leben für beide Familien weitergeht. Die Witwe beschließt irgendwann, dass es an der Zeit sei, ihr eigenes Haus im Dorf, aus dem sie verzogen war, wieder zu besuchen. Diese Besuche bringen alles in Bewegung, denn sie bleiben der anderen Familie nicht verborgen.

So wie die Familie des Ermordeten von diesem Mord in Mitleidenschaft gezogen wird, weil sie das Opfersein nicht mehr loswerden können, so klebt all das auch am Leben der anderen Familie, deren ältester Sohn als Terrorist der ETA im Gefängnis sitzt.

Was will die Witwe im Dorf? Will sie provozieren, ihr Leid zur Schau tragen? Oder will sie einfach nur ein bisschen ihres eigenen Lebens zurückgewinnen. Die ehemalige Freundin und Mutter eines Terroristen hat sich längst eingerichtet in ihrer ganz eigenen Opfergeschichte. Und die lässt nicht zu, den Verlust der Witwe anzuerkennen. Wie kann ein solches Chaos, dass historische Kräfte im Leben einfacher Menschen angerichtet haben, jemals wieder entwirrt werden. Wie kann hier Ausgleich, Verständigung oder gar Verzeihen möglich sein?

Aramburu begleitet die beiden Familien und die jeweiligen Familienmitglieder sehr eng. Bedrückend ist es zu lesen, mit welchen unterschiedlichen Strategien sich alle hier ein Leben nach dem Mord zu erringen versuchen und oft genug dabei scheitern. Gerade durch diese enge Begleitung, die alle hier lebendig und menschlich werden lässt, ist sehr bald gar nicht mehr klar, wer hier nur gut oder nur böse sein soll.

Selbst mit der schon fanatischen Anhängerin der ETA, der Mutter des mutmaßlichen Mörders, konnte ich irgendwann nur noch schwer hart ins Gericht gehen. Nicht, weil ich ihre Entscheidungen und Engstirnigkeiten rechtfertigen wollte, sondern weil Ideologie hier zu nachgerade psychischen Verformungen führt, aus denen ein Mensch allein kaum noch herausfinden kann. So schnell ist Menschlichkeit, Empathie, Freundschaft zerstört – für Parolen für oder gegen etwas.

Der Text ist keine leichte Lektüre, die Story keine mitreißende. Aber mir zumindest ging die erzählerische Intensität sehr ans Herz. Die vielen Zeit- und Perspektivwechsel zwangen mich beim Lesen zum ständigen Hinterfragen meiner Einschätzung der Leute und ihres Handelns. Ob die Geschichte eine wahre oder nach wahren Begebenheiten erzählte ist, ist leider nicht vermerkt. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass eine Situation wie die in dieser Region Spaniens genau solche Geschichten hervorgebracht hat.

Kurz und gut: Eine großartig geschriebene Geschichte über Schuld und Vergebung. Lesen!

#lesefrühling #roman #fernandoaramburu #rororo #rowohlt #spanien #baskenland #eta #freiheitskampf #terror #täter #opfer #aufarbeitung #zeitgeschichte #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Donnerstag, 8. Juni 2023

Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land


„Mehr als 1,4 Milliarden Menschen, 54 Länder, über 2000 Sprachen, seit Jahrzehnten auf einfache Geschichten reduziert: Hunger, Safaris, vielleicht noch brutale Diktaturen. Ein ganzer Kontinent wird bis zur Horrorhaftigkeit simplifiziert, mit desaströsen Folgen …
Afrika ist kein Land korrigiert die globale Wahrnehmungsverzerrung. Es ist das erzählerische Manifest gegen Dummheit, Faulheit und Einfachheit im Umgang mit der Vielgestaltigkeit des afrikanischen Kontinents. Und eine absolut hinreißende Intervention.“ (Umschlagtext)

Vor ein paar Jahren hatte ich die Autorin Nnedi Okorafor für mich entdeckt, eine nigerianisch-amerikanische Autorin, die mich auf bis dahin ungeahnte und grandiose Art und Weise literarisch nach Afrika entführte. Damals fiel mir das eigentlich Offensichtliche ziemlich markant auf: Ich habe keine Ahnung von diesem Kontinent – und nicht mal eine Vorstellung. Was sich medial, in Nachrichten, Dokus aber auch Büchern findet, ändert hierzulande auch wenig daran.

Da nehme ich dieses Buch doch gern als Anlass, mir diese Lücke mal wieder bewusst zu machen und etwas Neues zu entdecken.

„Dipo Faloyin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die jahrhundertealten Stereotype über Afrika aus der Welt zu schaffen. Mit Biss, Tempo, unwiderstehlichem Charme zeichnet er ein zeitgemäßes Porträt des Kontinents: urbanes Leben in Lagos, der erfolgreiche Kampf für Demokratisierung, die Kehrseite der Charity-Industrie, durchgeknallte kulinarische Rivalitäten, lebendige zivilgesellschaftliche Bewegungen, die einzigartige Rolle der Aunties im Großfamiliengefüge. Dipo Faloyin erzählt andere Geschichten, positiv, divers, kompliziert. Immer getrieben von Lebenslust und dem Glauben an eine großartige Zukunft trotz aller kolonialen Hindernisse.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Jessica Agoku)

#lesefrühling #sachbuch #dipofaloyin #suhrkamp #gesellschaft #politik #afrika #menschen #zeitgeschichte #aufklärung #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher

Sonntag, 4. Juni 2023

Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen


„Ein schillernder Roman über die bedrohliche Macht der Einsamkeit – und darüber, wie leicht es ist, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu belügen.“ (Umschlagtext)

Die Behauptung eines Mordes bringt eine alte, einsame Dame mit Hund offenbar auf Trab. Ich bin noch nicht sicher, ob dieser Text wirklich eine leichte Sommerlektüre wird. Aber ich bin gespannt. 😊

(Übersetzung: Anke Caroline Burger)

„Bei Sonnenaufgang läuft Vesta mit ihrem Hund eine Runde durch den Wald – die tägliche Routine einer einsamen alten Frau. Doch eines Morgens findet sie einen Zettel: ‚Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche.‘ Obwohl von der jede Spur fehlt, lässt Vesta der Gedanke an einen Mord nicht mehr los. Wer war Magda? Und wer könnte ihr Mörder sein? Die Aufklärung dieser Fragen wird zu Vestas Mission. Doch je tiefer sie sich in den Fall verstrickt, desto deutlicher treten ihre eigenen Abgründe hervor.
Ein großartiger Roman über Einsamkeit und darüber, wie einfach es ist, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu belügen.“ (Verlagstext)


#lesefrühling #roman #otessamoshfegh #btb #einsamkeit #mord #fantasie #lügen #obsession #gassigehen #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur

Donnerstag, 1. Juni 2023

Katharina Volckmer: Der Termin


„In einer Londoner Praxis entblößt sich eine junge Frau aus Deutschland vor ihrem Arzt Dr. Seligman. Ihm vertraut sie ihre heimliche Lust, ihre Schuldgefühle und ihr Ringen um sich selbst an. Mit ihrem in zahlreiche Sprachen übersetzten Debüt ist Katharina Volckmer zum internationalen Shootingstar einer neuen Literatur geworden.“ (Umschlagtext)

Der Ausgangspunkt, die Rahmenbedingungen dieses Bekenntnisses weckt sofort meine Neugierde. Wie klar, offen, schonungslos und ohne falsche Scham wird der Text erzählen? Ok ok, ich bin neugierig. Definitiv! 😉

„In einer Londoner Praxis entblößt sich eine junge Frau aus Deutschland vor ihrem Arzt Dr. Seligman. Obwohl sie nur seinen Hinterkopf sehen kann, vertraut sie ihm ihr Innerstes an: ihre heimliche Lust, ihre Schuldgefühle und ihr Ringen um sich selbst. Obwohl sie sich von ihrer katholischen Nachkriegsdeutschen Familie abgewandt hat und seit vielen Jahren in London lebt, verfolgen sie die alten Geister. In einem messerscharfen Monolog nabelt sie sich noch einmal von ihrer Vergangenheit, aber auch von ihrer Gegenwart ab. Vom Umkleiden in der Badeanstalt bis zum Toilettenfick in der Bar begleiten wir eine junge Frau, die sich von ihrer Scham, ihrer Kultur und ihrer Geschlechtlichkeit fundamental befreit.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Milena Adam)

#lesefrühling #roman #katharinavolckmer #kanonverlag #uk #london #frauenleben #scham #familie #lust #gesellschaft #feminismus #indiebook #lesen #leselust #lesenswert #leseratte #bücher #literatur