(Übersetzung:
Willi Zurbrüggen)
„Da geht
sie, die Arme, um an ihm zu zerbrechen.“ (Seite 7)
„Patria“
erzählt auf über 700 Seiten von der Unmöglichkeit zu Verzeihen und warum es so
überlebenswichtig ist, es dennoch zu versuchen. In einem Mikrokosmos lässt
Aramburu zwei ursprünglich befreundete Familien in einem baskischen Dorf sich
entfremden bis hin zum Mord. Der ist aber nur der Auftakt zum nicht weniger tragischen
Unvermögen, den Hass zu überwinden.
Die
Geschichte spielt vor dem Hintergrund des Kampfes der ETA, der baskischen
Befreiungsorganisation, die aus dem Untergrund das Leben der Dorfbewohner immer
stärker prägt. Der Anfang der hier erzählten Geschichte liegt irgendwo in den
Achtzigern des letzten Jahrhunderts. Die ETA gilt den einen als Heldin des
baskischen Volkes, für dessen Befreiung sie kämpft. Ein sozialistisches,
eigenständiges Baskenland soll es werden, im Gegensatz zum zentralistischen, in
Francos faschistischem Schatten stehenden Spanien.
Die Väter
der beiden Familien, einer ist Unternehmer, der andere Fabrikarbeiter sind
befreundet, widmen sich sonntags gemeinsam dem Radsport. Die Mütter gelten
ebenso als Freundinnen. Die jeweils zwei Kinder wachsen gemeinsam auf. Parallel
zur eigentlich idyllischen Freundschaft der Familien politisiert sich die
Stimmung im Dorf zusehends. Bist du für oder gegen die ETA und deren Kampf? Die
Dorfjugend wird vom Wirt einer zentralen Kneipe für die ETA angeworben oder zumindest
politisiert, deren Eltern hören Ähnliches in den Predigten des Pfarrers. Unmerklich
ziehen sich Gräben durchs Dorf, zwischen Freunden aber auch
Familienmitgliedern. Wie stehst du zum Kampf der ETA?
Der
Unternehmer gerät, womöglich weil er Unternehmer und damit ja Kapitalist ist,
ins Visier der ETA. In anonymen Briefen wird er, wie viele andere auch, dazu
aufgefordert, „freiwillig“ an die ETA zu spenden. Zunächst lässt er sich das
gefallen. Als er in Verzug gerät, tauchen Gerüchte über ihn im Dorf auf.
Sprüche gegen ihn werden an Mauern geschrieben. Er wird zum Freiwild erklärt,
als er auf diese Einschüchterungen nicht eingehen will. Sein Radsportfreund
zieht sich, wie viele andere auch, von ihm zurück. Sie alle wollen nicht
riskieren, dass der Schatten, der auf dem Unternehmer nun lastet, auch sie
betrifft.
Der
Fabrikarbeiter selbst ist nicht einmal entschiedener Befürworter der ETA. Aber
seine Frau und der älteste Sohn klingen immer entschiedener, fanatischer. Also
fügt er sich drein. Und ganz ohne dass es einen großen Krach oder Streit
gegeben hätte, haben sich die Familien entfremdet. Die Kinder spielen nicht mehr
zusammen, die Väter verbringen ihre Freizeit getrennt, die jeweils sehr
bestimmenden Mütter finden nicht mehr zueinander.
Die Situation
um den Unternehmer verschärft sich über die Zeit, in der sich gleichzeitig der
Älteste des Fabrikarbeiters bei der ETA bewirbt, in den Untergrund geht und
einer ihrer Kämpfer wird. Als der Unternehmer schließlich tatsächlich von einem
Kommando der ETA ermordet wird, steht der Verdacht im Raum, dass der Sohn
seines ehemaligen Freundes der Täter sein könnte.
Jahre
vergehen, in denen das Leben für beide Familien weitergeht. Die Witwe beschließt
irgendwann, dass es an der Zeit sei, ihr eigenes Haus im Dorf, aus dem sie
verzogen war, wieder zu besuchen. Diese Besuche bringen alles in Bewegung, denn
sie bleiben der anderen Familie nicht verborgen.
So wie die
Familie des Ermordeten von diesem Mord in Mitleidenschaft gezogen wird, weil sie
das Opfersein nicht mehr loswerden können, so klebt all das auch am Leben der
anderen Familie, deren ältester Sohn als Terrorist der ETA im Gefängnis sitzt.
Was will die
Witwe im Dorf? Will sie provozieren, ihr Leid zur Schau tragen? Oder will sie
einfach nur ein bisschen ihres eigenen Lebens zurückgewinnen. Die ehemalige
Freundin und Mutter eines Terroristen hat sich längst eingerichtet in ihrer
ganz eigenen Opfergeschichte. Und die lässt nicht zu, den Verlust der Witwe
anzuerkennen. Wie kann ein solches Chaos, dass historische Kräfte im Leben
einfacher Menschen angerichtet haben, jemals wieder entwirrt werden. Wie kann
hier Ausgleich, Verständigung oder gar Verzeihen möglich sein?
Aramburu
begleitet die beiden Familien und die jeweiligen Familienmitglieder sehr eng.
Bedrückend ist es zu lesen, mit welchen unterschiedlichen Strategien sich alle
hier ein Leben nach dem Mord zu erringen versuchen und oft genug dabei
scheitern. Gerade durch diese enge Begleitung, die alle hier lebendig und
menschlich werden lässt, ist sehr bald gar nicht mehr klar, wer hier nur gut
oder nur böse sein soll.
Selbst mit
der schon fanatischen Anhängerin der ETA, der Mutter des mutmaßlichen Mörders, konnte
ich irgendwann nur noch schwer hart ins Gericht gehen. Nicht, weil ich ihre
Entscheidungen und Engstirnigkeiten rechtfertigen wollte, sondern weil
Ideologie hier zu nachgerade psychischen Verformungen führt, aus denen ein
Mensch allein kaum noch herausfinden kann. So schnell ist Menschlichkeit, Empathie,
Freundschaft zerstört – für Parolen für oder gegen etwas.
Der Text ist
keine leichte Lektüre, die Story keine mitreißende. Aber mir zumindest ging die
erzählerische Intensität sehr ans Herz. Die vielen Zeit- und Perspektivwechsel
zwangen mich beim Lesen zum ständigen Hinterfragen meiner Einschätzung der
Leute und ihres Handelns. Ob die Geschichte eine wahre oder nach wahren
Begebenheiten erzählte ist, ist leider nicht vermerkt. Aber ich kann mir gut
vorstellen, dass eine Situation wie die in dieser Region Spaniens genau solche
Geschichten hervorgebracht hat.
Kurz und
gut: Eine großartig geschriebene Geschichte über Schuld und Vergebung. Lesen!
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