Freitag, 31. März 2023

Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt


„Die kapitalistische Gesellschaft ist eine Fressorgie, deren Hauptgericht wir alle sind.“ (Umschlagtext)

In den aktuellen Blättern für deutsche und internationale Politik (3/23) konnte ich schon einen Eindruck vom Text bekommen und bin gespannt. Zwar lassen sich spielen Stunden um Stunden damit füllen, sich in diversen Artikeln häppchenweise den verschiedensten Krisen zu widmen. Aber irgendwie fehlt dann doch immer wieder der Zusammenhang, der nicht nur die Analyse schärft, sondern ein Denken in Alternativen erst ermöglicht.

Und ist es schlimm, wenn in diesem Zusammenhang der Begriff Sozialismus auftaucht? Nö. 😊

„Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern eine Gesellschaftsform. Als solche ist er darauf angewiesen, sich auch nichtökonomische Ressourcen einzuverleiben und so langfristig seine eigenen Grundladen zu zerstören. Wie der Ouroboros, die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist, verschlingt er natürliche Rohstoffe und unbezahlte Betreuungsarbeit. Er enteignet rassifizierte Gruppen und unterminiert die Macht demokratischer Institutionen, auf deren Funktionieren er eigentlich angewiesen ist. Damit erweist er sich als Motor hinter den diversen Krisenphänomenen, mit denen wir heute konfrontiert sind.
In ihrem lang erwarteten neuen Buch zeichnet Nancy Faser die historische Entwicklung des kapitalistischen Allesfressers über mehrere Epochen hinweg nach. Indem sie den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Krisen analysiert, zeigt sie zugleich auf, wie ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klimawandel, Rassismus, Pflegekrise und demokratische Regression als Symptome desselben Problems zu begreifen weist den Weg zu neuen und starken gegenhegemonialen Allianzen.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Andreas Wirthensohn)

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Dienstag, 28. März 2023

Ivan Krastev/ Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung


(Übersetzung: Karin Schuler)

„Gestern war die Zukunft besser.“ (Seite 7)

Gestern, das war die Zeit kurz nach dem Ende des Kalten Krieges. Und die Zukunft leuchtete unzweifelhaft in westlich-liberalen Farben – das zumindest war die weit verbreitete Vorstellung eben nicht nur im Westen, sondern auch in den Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks. Diese durchaus pointiert argumentierte Analyse war mit Sicherheit schon 2019 spannend zu lesen, als sie im Original erschien. Sie nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu lesen mindert das wahrlich nicht.

Der Begriff, um den sich die Analyse dreht, ist der der Nachahmung. Die Autoren beschreiben, wie die osteuropäischen Transformationsgesellschaften sich zügig daran machten, vom „Sieger der Geschichte“ durch Nachahmung zu lernen. Dieses Nachahmen geschah einerseits ökonomisch durch die Öffnung und Anpassungen der Volkswirtschaften. Die Menschen hofften, daran kann ich mich noch gut erinnern, dass Wohlstand und die Chance auf Reichtum umgehend einziehen würden.

Dafür war zugleich andererseits auch ein gesellschaftlicher Umbau nach den Vorbildern der westlichen, liberalen Demokratien erforderlich. Hier sollte es nicht nur um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, sondern eben auch um die politischen und institutionellen Verankerungen gehen.

Krastev und Holmes beschreiben, dass die Transformationsgesellschaften und die entsprechenden Eliten in den Ländern durch Nachahmung, die ohne eine gewachsene gesellschaftliche Entwicklung und Verankerung auskommen musste, ein Ankommen im Westen versuchten. In dem Maße, wie offenbar wurde, dass Wohlstand und alles, was noch an Hoffnungen damit verbunden war, nicht eintrat, stieg die Enttäuschung. Enttäuschung auch darüber, zwar in den Klub aufgenommen worden zu sein, aber ohne gleichzeitig auch als vollwertig, gleichberechtigt und auf Augenhöhe anerkannt zu sein. Dass „der Westen“ eben doch vorrangig mit sich selbst beschäftigt blieb, auch daran hab ich eine vage Erinnerung.

Im Vergleich zu den osteuropäischen Staaten ist in diesem Buch natürlich der Blick auf Russland besonders interessant. Ohne den Angriffskrieg Russlands von 2022 schon vorauszusehen, beschreiben die Autoren auch hier eine Entwicklung um den Begriff der Nachahmung herum. Dabei machen sie deutlich, dass das, was in Osteuropa 1989 als Befreiung empfunden wurde, in Russland eine gefühlte und gelebte Niederlage war.

Die Nachahmung wird in dieser Schilderung zu einem zynischen Spiegelvorhalten, dass Putin gegenüber der westlichen Welt praktiziert. Für mich klingt die Herleitung und Beschreibung recht plausibel, zumal die Autoren hier nicht von Schuld etc. sprechen, sondern versuchen, eine Erklärung zu finden für die auf so vielen Ebenen verfahrene Situation. Die ist schließlich inzwischen davon gekennzeichnet, dass nicht nur in den Transformationsgesellschaften die Demokratie in die Krise geraten ist. Auch in den westlich-liberalen Gesellschaften wackeln die Grundpfeiler der Demokratie ganz kräftig. Dies, und hier schließt sich der Bogen, hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf diejenigen, die zuvor den Westen nachzuahmen versuchten.

Kurz und gut: Pointiert und überzeugend argumentiert – und auch heute durch die Ereignisse nicht überholt. Lesen!

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Sonntag, 26. März 2023

Sebastian Barry: Mein fernes, fremdes Land

 

„Lilly Bere, neunundzwanzig Jahre alt, will sich das Leben nehmen, zuvor aber hält sie in einem großen Haushaltsbuch ihre Erinnerungen fest. Nicht zum ersten Mal ist Lillys Tod beschlossene Sache. Aus dem Irland der Zwanzigerjahre musste sie mit ihrem Verlobten Tadg Hals über Kopf vor der IRA nach Amerika fliehen. Als Tadg erschossen wird, taucht Lilly in Cleveland unter, wo sie, immer auf der Hut vor den Mördern, einen neuen Anfang wagt.“ (Umschlagtext)

Heute gibt’s mein Fundstück vom #indiebookday23 noch einmal richtig zu sehen. Die Wahl war letztlich eine ganz einfache, als ich diesen Band von Sebastian Barry im Schaufenster entdeckt habe. Der Autor hat es spielend in die kleine Liste derer geschafft, deren Bücher ich bedenkenlos und blindlings kaufen würde. Die Ausgaben vom Steidl Verlag tun da ein Übriges. Kurz: die perfekte Mischung aus Text und Medium. Danke Steidl Verlag und danke Sebastian Barry. 😊

(Übersetzung: Petra Kindler/ Hans-Christian Oeser)

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Indiebookday 2023



#indiebookday2023 - ist das nicht alles Marketing?

Ja klar. Aber wenn es uns einen Anlass liefert, einen langen Spaziergang u unabhängigen Buchläden in unserer Nachbarschaft zu machen und unabhängige Verlage zu unterstützen und uns obendrein dafür mit guten Büchern zu belohnen, dann sind wir dabei. 🤓
Liebe geht raus an die beste @buchdisko von allen und an das einfach umwerfende @pankebuch 😘🥰 Wir sind so froh, dass es euch gibt!

Freitag, 24. März 2023

Christoph Möllers: Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik


„Ein einheitliches Konzept des Liberalismus existiert nicht, ebenso wenig ein einheitlicher Freiheitsbegriff. Die liberale Theorie ist vieldeutig und komplex, und sie steckt voller Widersprüche. Wie können diese Widersprüche in der politischen Praxis aufgelöst werden? Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers untersucht das Verhältnis der Liberalismen zur Politik und entwickelt daraus ein aus der Mechanik entlehntes Konzept der Freiheitsgrade. Laut Möllers könne Freiheit auf verschiedene Arten praktiziert werden, ohne dass dabei die liberale Denkweise aufgegeben würde. Durch die Linse liberaler Theorien beobachtet und diskutiert Möllers zahlreiche Themen wie das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft oder das zwischen Gesundheitsprävention und Freiheitsidealismus in Pandemiezeiten. Keineswegs will der Autor dies als Ratgeber für politisches Handeln verstanden wissen, im Gegenteil: Zur Freiheit, so Möllers, gehören Spielräume und unterschiedliche Orientierungen.“ (Umschlagtext)

Freie Fahrt für freie Bürger, Freiheit versus Maske gegen Corona, der freie Westen … Gefühlt ist in den letzten Jahren unglaublich oft von Freiheit die Rede, wird in ihrem Namen demonstriert und auch gepöbelt. Vor diesen Hintergründen scheint mir ein Blick auf liberale Freiheitsbegriffe oder -grade spannend zu sein – um mal nicht nur darauf zu schauen, wie (Rechts-)Populisten den Begriff zu kapern, zu besetzen und umzudeuten versuchen.

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Donnerstag, 23. März 2023

Jim Bishop: Die verlorenen Briefe


„Ich habe das Gefühl, ich entdecke die einfachen Freuden des Lebens wieder.“ (Umschlagtext)

Der Verlag selbst verweist auf die Inspiration des Künstlers durch das Studio Ghibli – und ja, die Zeichnungen lassen mich schon beim Durchblättern an einen dieser herrlichen Filmabende denken, bei denen ich zumindest einmal mehr begeistert feststelle, dass Anime/Zeichentrick nicht weniger überzeugend, mitreißend und begeisternd Stoffe erzählen kann.

Auch wenn ich diesen Band dem MM aus dem Stapel gemopst habe, bin ich sehr sehr gespannt aufs Schmökern. 😊

„Wie jeden Morgen wartet Iode auf diesen einen besonderen Brief, der doch schon lange hätte kommen sollen! Ob das wohl ein Scherz des Briefe austragenden Clownfischs ist, der sich immer einen Spaß daraus macht, seine Post bei den Nachbarn zuzustellen? Oder ist der Brief vielleicht irgendwo falsch eingeworfen worden? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: Iode muss in die Stadt fahren und selbst nachsehen.
Auf seiner Fahrt begegnet er der eigenwilligen Anhalterin Frangine, die etwas für die mysteriöse kriminelle Bande "Der Tintenfisch" ausliefern soll ... Und schon befindet sich Iode mitten in einem ungeahnten Abenteuer: Auf der Sonneninsel, wo Fische und Menschen Seite an Seite zusammenleben, sind ruchlose Gangster und unfähige Polizisten an der Tagesordnung.

Vom legendären Studio-Ghibli-Schöpfer Hayao Miyazaki inspiriert, ist Jim Bishops Debüt eine kuriose Mischung aus Humor, Einfühlsamkeit und melancholischem Drama.“ (Verlagstext)

(Übersetzung: Swantje Baumgart)

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Sonntag, 19. März 2023

Colson Whitehead: Harlem Shuffle


„Im schillernden Harlem der sechziger Jahre, wo Gangster und Zuhälter, Hochstapler und Schießwütige die Strippen ziehen, versucht ein Mann aus einfachen Verhältnissen so ehrlich wie möglich aufzusteigen. Der neue Roman des zweifachen Pulitzer-Preisträgers Colson Whitehead ist zugleich Familiengeschichte und Ganovenstück, vor allem aber eine großartige Liebeserklärung an New Yorks berühmtestes Viertel.“ (Umschlagtext)

Und ich hab ja gesagt, ich will in jedem Fall mehr von diesem Autor lesen, nachdem ich Die Nickel Boys schon so großartig fand. Here weg go! 😊

„Eigentlich würde Ray Carney, der sich aus ärmlichsten Verhältnissen hochgearbeitet hat, am liebsten ohne Betrügereien auskommen. Doch als seine Frau ein zweites Kind erwartet, reichen die Einkünfte aus seinem Einrichtungsladen auf der 125th Street nicht für den Lebensstandard, den auch die bürgerlichen Schwiegereltern erwarten. Cousin Freddie bringt gelegentlich eine Goldkette vorbei, die Ray bei einem Juwelier am Times Square versetzt. Aber was soll er tun mit dem Raubgut aus dem Coup im legendären und luxuriösen Hotel Theresa im Herzen Harlems, nachdem Freddie und sein Kumpane sich aus dem Staub gemacht haben? Als Polizei und Gangster Ray in seinem Laden zur Rechenschaft ziehen, bekommt er zu spüren, wer in Harlem wirklich die Fäden zieht, und sein waghalsiges Doppelleben zwischen Rechtschaffenheit und Schwindel steht auf der Kippe.“ (Klappentext)

(Übersetzung: Nikolaus Stingl)

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Freitag, 17. März 2023

Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die große Transformation


„Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sollten Marktwirtschaft und liberale Demokratie weltweit friedliche Kooperation und ein Leben im Wohlstand fördern. Groß angelegte Konflikte, so eine weit verbreitete Meinung, seien nun nicht mehr zu befürchten. Doch kam es anders: Nicht nur in den Transformationsstaaten Mittelost- und Osteuropas ließ das Wohlstandsversprechen vielerorts auf sich warten. Auch im Westen wich das jahrzehntelang gültige Aufstiegsversprechen der Angst vor sozialem Abstieg. Finanz- und Eurokrise, der Erfolg rechtspopulistischer Parteien und neue Konflikte zwischen Weltmächten haben das Vertrauen in den befriedenden Charakter von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie weiter geschwächt. In mehreren Essays setzt sich Philipp Ther mit den Veränderungsprozessen seit den 1990er-Jahren auseinander. Mit einem Fokus insbesondere auf die USA, Deutschland und Italien zeichnet er nach, wie ähnliche, aber auch sehr eigene Dynamiken die jüngere Zeitgeschichte dieser Länder geprägt haben und die jeweilige politische Situation bis in die Gegenwart hinein bestimmen.“ (Umschlagtext)

Nach den bereits viel besprochenen Enttäuschungen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks rücken immer mehr die Abstiegsängste im eigentlich wohlhabenden Westen in den Blick. Die Dynamiken, die sich wirtschaftlich und politisch regional und global daraus ergeben, sind Thema der fünf Essays in diesem Band, der ursprünglich bei Suhrkamp erschienen ist.

Und weil das Krisenknäuel eh nur größer zu werden scheint, lohnt sich doch da auch ein Blick drauf beziehungsweise hinein, also in dieses Büchlein. 😊

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