Donnerstag, 15. Juni 2017

Leonardo Padura: Ketzer



„Mehrere Jahre sollte Daniel Kaminsky brauchen, um sich an den pulsierenden Lärm einer Stadt zu gewöhnen, die in allgegenwärtiges Stimmengewirr eingehüllt war.“ (Seite 17)

Die fröhlich-lärmende Stadt ist natürlich Havanna. Daniel kam als kleiner Junge hier an, vorausgeschickt von seiner jüdischen Familie, die noch bis 1939 in Deutschland ausharrte, bevor sie sich schließlich auf der MS „St. Louis“ einschiffte. Dieses Kreuzfahrtschiff erlangte traurige Berühmtheit, weil sich auf ihm auf dieser Fahrt 937 jüdische Flüchtlinge befanden, die darauf hofften, in Havanna ein neues Leben zu beginnen. Angekommen im Hafen von Havanna, wurde den Flüchtlingen jedoch das Verlassen des Schiffes verwehrt. Alles Verhandeln hatte keinen Erfolg, die erkauften Passagen und Einreiseerlaubnisse blieben wirkungslos. Nach Tagen zäher Gespräche wurde das Schiff zur Abfahrt gezwungen – die Flüchtlinge waren immer noch an Bord. Daniel wurde im Hafen an der Hand seines Onkels, bei dem er untergekommen war, Zeuge dieser beschämenden Szene. Das Schiff landete nach weiterer Irrfahrt wieder in Europa, viele der Flüchtlinge kamen in den Lagern der Nazis ums Leben.

(Mehr über diese beschämende Geschichte findet sich u.a. in diesen beiden Artikeln, die in der Zeit bzw. im Spiegel erschienen: http://www.zeit.de/online/2009/20/flucht-kuba sowie http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/judenverfolgung-kreuzfahrt-in-den-tod-a-421002.html )

Die Geschichte des Schiffes und der Flüchtlinge ist nur der Ausgangspunkt des Romans, der im weiteren Verlauf von Daniels Leben erzählt. Er wächst bei seinem Onkel auf, der gläubiger Jude ist, und gerät mehr und mehr in Streit mit ihm, weil er nur eines sein möchte – ein echter Kubaner. Während der Onkel an den Traditionen festhält, versucht Daniel alles, um der engen und ihm engstirnig erscheinenden Welt der jüdischen Gemeinde zu entkommen. Der Gott seiner Familie und er werden keine Freunde.

Doch auch mit Kuba und Daniel geht es nicht gut. Seine Eltern führten auf dem Schiff ein Gemälde mit sich, dass sich seit jeher im Familienbesitz befand und vermutlich ein echter Rembrandt war. Noch im Hafen vor Havanna sollte es ihre Versicherung werden, an Land gehen zu dürfen, oder wenigstens Daniels Leben absichern. Doch er verschwand in dunklen Kanälen der Korruption, wie Daniel sehr viel später herausfindet. Nach dem zunächst unaufgeklärten Mord an dem korrupten Beamten, bei dem sich dieses Gemälde befand, verlässt Daniel in den 60er Jahren Kuba mit seiner Frau und lebt fortan in den USA.

Als dieses Gemälde nun 2007 auf einer Auktion plötzlich wieder auftaucht, tritt Daniels Sohn in die Geschichte ein. Auf Kuba versucht er mithilfe des ehemaligen Polizisten Mario Conde Licht in das Dunkel rund um den Mord zu bringen, dessen Daniel so sehr verdächtig ist, wie auch in die Geschichte des Gemäldes. Handelt es sich wirklich um einen echten Rembrandt?

Diese Frage führt im Roman zurück in das Amsterdam des Jahres 1648. Hier lebt ein junger Jude, der nichts mehr begehrt, als bei dem großen Meister Rembrandt das Malen zu erlernen. Damit verstößt er gegen jüdische Gebote, was ihn in schwere Gewissensnöte bringt. Er erkämpft sich seinen Traum, ohne seinem Glauben aufzugeben, verteufelt und verstoßen von seiner Gemeinde.

Im Havanna der Gegenwart kommt Mario Conde, der sich seit seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst als Privatdetektiv in Sachen antiquarischer Bücher verdingt, bei seinen Ermittlungen an seine Grenze. Auch im sozialistischen Kuba wuchert die Korruption. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf dunkle Machenschaften von Beamten und schließlich auf einen weiteren Mord – dieses Mal an einem jungen Mädchen aus der Emo-Szene der Großstadt.

Ein Jude, der der Religion seiner Familie abschwört; ein anderer Jude, der sich mit seinem Begehren zu malen gegen die Tradition stellt; ein ehemaliger Polizist, der sich mit seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst für ein freieres Leben entscheidet; eine Jugendkultur, deren Anhänger*innen sich bewusst abseits der Gesellschaft stellen – der rote Faden in diesem backsteindicken Epos ist unübersehbar und erklärt den Titel.

Am stärksten fand ich das Werk von Leonardo Padura in den Passagen zum Leben von Daniel Kaminsky in Havanna, der Suche von Mario Conde und in dem langen Teil, der im Amsterdam des Jahres 1648 spielt. Das Auftreten der kubanischen Emos ist eine grandiose Idee, weil es so herrlich unerwartet kommt. Aber hier empfand ich den Ton als etwas zu flapsig, was vielleicht an der Distanz des Älteren zu dieser Jugendkultur liegen mag.

Der erzählerischen Kraft des Buches nimmt dies nichts. Langeweile oder Langatmigkeit spürte ich an keiner Stelle. Meine Lust, mehr von Padura zu lesen ist eindeutig geweckt, weil es ihm gelingt, eine in weiten Teilen tieftraurige Geschichte mit Leichtigkeit und auch Humor zu erzählen. Auch wenn die Menschen in seinem Roman so oft verzweifeln und an ihrer Gegenwart leiden, vermeidet er Betroffenheitsklischees.

Kurz und gut: Das gibt eine klare Leseempfehlung. Der Autor bleibt unbedingt auf der Leseliste! J

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