Sonntag, 11. Juni 2017

Saphia Azzeddine: Mein Vater ist Putzfrau



„Mein Vater ist Putzfrau. Nach der Schule greife ich ihm oft unter die Arme. Damit wir früher nach Hause kommen. Und auch, weil er mein Vater ist. Ich poliere, ich putze, ich scheuere, ich sauge Staub, sogar in den Ecken. Klein und schmal, wie ich bin, komme ich überall hin. Aber ich lerne auch was. Ein Wort pro Woche. Nicht irgendwelche. Die Wörter, die Angst machen. Die arroganten, die hochgestochenen, die überheblichen, die transzendenten, bei denen du dich bis auf die Knochen blamierst, wenn du ihren Sinn nicht kennst. Die, die sich drei Konsonanten hintereinander leisten wie obskur. Oder sogar vier wie abstrakt. Und das ist nicht mal ein Schreibfehler.“ (Seite 7)

Paul ist vierzehn und klein und schmächtig. Er ringt um seinen Platz in der Welt, hadert mit seiner Familie und geht auf eine Schule, in der der Sohn des Mannes in seine Klasse geht, bei dem Pauls Vater als Reinigungskraft angestellt ist. Seine Mutter beschreibt er selbst als „gelähmt und hässlich“. Der Ehrgeiz seiner Schwester beschränkt sich darauf, ihrem Leben und ihrer Familie durch den Sieg bei einer Miss-Wahl zu entfliehen.

Während Paul seinem Vater bei den nächtlichen Putztouren hilft, entdeckt er beim Abstauben der Bücherregale in einer Bibliothek die Faszination und die Macht von Wörtern. Wörter, die in seinem Leben nicht vorkommen, die von einer anderen Welt erzählen. Von der Welt seiner Mitschüler zum Beispiel, von dem Universum, in dem die schöne und kluge Priscilla nahbar und erreichbar ist.

Aber Paul ist auch ein kleiner Besserwisser, ein mitunter hormongesteuerter Angeber, der so gern stolz auf seinen Vater wäre. Immer wieder stößt er an Grenzen, die ihm seine Herkunft setzt oder die Welt um ihn herum oder das Gefühl von Ausweglosigkeit tief in ihm drin.

Die marokkanisch-stämmige Französin Saphia Azzeddine lässt Paul selbst seine Geschichte erzählen. Er darf altklug und wie ein kleiner Macho daherreden und dabei eine Menge schlaue Dinge sagen. Paul sinniert über Begriffe wie transzendent, Ungemach aber natürlich auch über Schwänze und Muschis.

In Pauls Entwicklung zeigt Azzeddine, welche Wirkmacht es entfalten kann, wenn Menschen in prekären Verhältnissen Begriffe finden, um ihr Leben, ihre Situation zu beschreiben. Damit lässt sich dieser kleine Roman gut einreihen in die Folge erfolgreicher Texte aus Frankreich wie die von Didier Eribon oder auch von Edouard Louis. Dabei schreibt sie weniger soziologisch als Eribon aber für meinen Geschmack deutlich pointierter und witziger als Louis.

Natürlich ist die Geschichte auch ein wenig Klischee. Armer Junge aus einfachen Verhältnissen will das reiche Mädchen beeindrucken und entdeckt die Macht des Wissens dafür. Irgendwann wirft ihn der Widerspruch zwischen der oberflächlichen Welt des Erfolgs und der bodenständigen Moral der armen Leute in tiefe Konflikte. Aber wenn man nur will, lässt sich natürlich alles erreichen.

Ganz so einfach macht es sich und uns Saphia Azzeddine dann aber doch nicht. Es sind die Zwischentöne, immer wieder eingestreute Momente, die auf Strukturelles verweisen, was andererseits Didier Eribon wiederum in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ viel analytischer beschreibt.

Kurz und gut: Lesen! Und beim Versuch, die Welt um uns herum auch in ihren abstoßenden Facetten zu verstehen, darf ruhig auch mal gelacht werden. ^^


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