„Mein Vater ist Putzfrau. Nach der Schule greife ich ihm oft
unter die Arme. Damit wir früher nach Hause kommen. Und auch, weil er mein
Vater ist. Ich poliere, ich putze, ich scheuere, ich sauge Staub, sogar in den
Ecken. Klein und schmal, wie ich bin, komme ich überall hin. Aber ich lerne
auch was. Ein Wort pro Woche. Nicht irgendwelche. Die Wörter, die Angst machen.
Die arroganten, die hochgestochenen, die überheblichen, die transzendenten, bei
denen du dich bis auf die Knochen blamierst, wenn du ihren Sinn nicht kennst.
Die, die sich drei Konsonanten hintereinander leisten wie obskur. Oder sogar vier wie abstrakt.
Und das ist nicht mal ein Schreibfehler.“ (Seite 7)
Paul ist vierzehn und klein und schmächtig. Er ringt um
seinen Platz in der Welt, hadert mit seiner Familie und geht auf eine Schule,
in der der Sohn des Mannes in seine Klasse geht, bei dem Pauls Vater als Reinigungskraft
angestellt ist. Seine Mutter beschreibt er selbst als „gelähmt und hässlich“.
Der Ehrgeiz seiner Schwester beschränkt sich darauf, ihrem Leben und ihrer
Familie durch den Sieg bei einer Miss-Wahl zu entfliehen.
Während Paul seinem Vater bei den nächtlichen Putztouren
hilft, entdeckt er beim Abstauben der Bücherregale in einer Bibliothek die
Faszination und die Macht von Wörtern. Wörter, die in seinem Leben nicht
vorkommen, die von einer anderen Welt erzählen. Von der Welt seiner Mitschüler
zum Beispiel, von dem Universum, in dem die schöne und kluge Priscilla nahbar
und erreichbar ist.
Aber Paul ist auch ein kleiner Besserwisser, ein mitunter
hormongesteuerter Angeber, der so gern stolz auf seinen Vater wäre. Immer
wieder stößt er an Grenzen, die ihm seine Herkunft setzt oder die Welt um ihn
herum oder das Gefühl von Ausweglosigkeit tief in ihm drin.
Die marokkanisch-stämmige Französin Saphia Azzeddine lässt
Paul selbst seine Geschichte erzählen. Er darf altklug und wie ein kleiner
Macho daherreden und dabei eine Menge schlaue Dinge sagen. Paul sinniert über
Begriffe wie transzendent, Ungemach aber natürlich auch über Schwänze und
Muschis.
In Pauls Entwicklung zeigt Azzeddine, welche Wirkmacht es
entfalten kann, wenn Menschen in prekären Verhältnissen Begriffe finden, um ihr
Leben, ihre Situation zu beschreiben. Damit lässt sich dieser kleine Roman gut
einreihen in die Folge erfolgreicher Texte aus Frankreich wie die von Didier
Eribon oder auch von Edouard Louis. Dabei schreibt sie weniger soziologisch als
Eribon aber für meinen Geschmack deutlich pointierter und witziger als Louis.
Natürlich ist die Geschichte auch ein wenig Klischee. Armer
Junge aus einfachen Verhältnissen will das reiche Mädchen beeindrucken und
entdeckt die Macht des Wissens dafür. Irgendwann wirft ihn der Widerspruch
zwischen der oberflächlichen Welt des Erfolgs und der bodenständigen Moral der
armen Leute in tiefe Konflikte. Aber wenn man nur will, lässt sich natürlich
alles erreichen.
Ganz so einfach macht es sich und uns Saphia Azzeddine dann
aber doch nicht. Es sind die Zwischentöne, immer wieder eingestreute Momente,
die auf Strukturelles verweisen, was andererseits Didier Eribon wiederum in
seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ viel analytischer beschreibt.
Kurz und gut: Lesen! Und beim Versuch, die Welt um uns herum
auch in ihren abstoßenden Facetten zu verstehen, darf ruhig auch mal gelacht
werden. ^^
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