Dienstag, 11. Juni 2019

Jana Hensel/ Wolfgang Engler: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein



„Wolfgang Engler: Hätte ich Sie am Tag der Bundestagswahl gefragt, ob wir gemeinsam ein Buch machen sollten, was hätten Sie geantwortet?
Jana Hensel: Ja, natürlich, unbedingt!“ (Seite 9)

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ja, dieser Gesprächsband bekommt eine unbedingte Leseempfehlung. Und Ossi zu sein, ist keine Lesevoraussetzung. ;)

Ich bin im Buchladen meines Vertrauens wirklich lange um das Buch herumgeschlichen, habe immer mal wieder hineingelesen und mich dann doch für anderes entschieden. Noch so ein Ossi-Erklärbuch? Nein, eigentlich was das nicht ganz meine Befürchtung. Aber irgendwas hielt mich eben doch davon ab, dem grundsätzlichen Interesse den Kauf folgen zu lassen. Ich vermute, es hatte etwas damit zu tun, dass die Anlässe, wenn Ostdeutschland und seine Bewohner*innen mal wieder in den medialen Fokus geraten, doch eben überschaubar und immer gleich sind. Jammern, Wehklagen und rechte Gewalt.

Vielleicht spielt die Ost-West-Frage in meinem Leben auch keine so große Rolle mehr? Ich wurde 1975 in Thüringen geboren. So antworte ich auf die Frage, woher ich stamme. Thüringen kam mir als Begriff aber eigentlich erst in den 90ern ins Bewusstsein. Mühlhausen, Bezirk Erfurt – das galt bis 1990. Gedankensplitter wie dieser, haben mich durch die ganze Lektüre des Bandes begleitet.

Der Band gibt ein Gespräch wieder zwischen der Journalistin und Autorin Jana Hensel und dem Soziologen und ehemaligen Rektor der Schauspielhochschule „Ernst Busch“ in Berlin, Wolfgang Engler. Sie ist Jahrgang 1976, er Jahrgang 1952. Das Gespräch ist also nicht nur eines unter Ossis sondern eben auch ein Generationengespräch. Engler lebte auch gut 30 Jahre nach dem Mauerfall mehr Jahre in der DDR als im Nachwendedeutschland. Hensels Erfahrung, nach einer Kindheit in einem untergegangen Land, die prägenden Jugendjahre in einer oftmals wilden Zeit in einem altbekannt-neuen Land erlebt zu haben, teile ich. Vermutlich sind mir ihre Passagen im Buch auch deswegen schon grundsätzlich näher.

Andererseits ist mir bewusst, dass ich eine solche Unterhaltung mit meinen eigenen Eltern wohl nicht führen würde. Die Stimme der Generation meiner Eltern spielte in meinem Leben bisher immer eher eine untergeordnete Rolle. Ich will das mit einem persönlichen Bild illustrieren. Mein Berufsleben nach dem Abitur verbrachte ich in den 90ern in den alten Ländern, pendelte an den Wochenenden aber meist nach Hause. Im Westen erlebte ich die üblichen und erwartbaren Sprüche über Jammerossis, Anwesende natürlich immer ausgenommen. Ich übte mich im Verteidigen und Differenzieren und Erklären. Kam ich am Wochenende nach Hause, ärgerte ich mich arg darüber, wenn ich die Klischees, denen ich eben noch vehement widersprochen hatte, live und in Farbe erleben musste. Während ich mich selbst als „Wanderer zwischen den Welten“ erlebte und das Gefühl hatte, immer wieder Übersetzungsarbeit leisten zu müssen, wurde der Abstand zwischen dem, was mein Leben bestimmte und dem, was das Leben meiner Eltern bestimmte, immer größer.

Meine Erkenntnis aus dieser kleinen Abschweifung: So wenig, wie es vor der Wende den Ossi schlechthin hab, so wenig gab es ihn/sie danach. Das klingt erstmal banal, aber offenbar können wir uns das bei Ost-West-Debatten nicht oft genug laut vorsagen. ^^

Vor diesem sehr subjektiven, oben beschriebenen Hintergrund las ich nun also das stellvertretende Gespräch zwischen meiner Generation und der meiner Eltern. Ich will auch gar nicht versuchen, die ca. 280 Seiten hier platt zusammenzufassen. Schaut ins Inhaltsverzeichnis, das deutlich macht, dass es nicht nur um Pegida und Nazis geht. Jenseits aller Erklärungs- und Rechtfertigungsrhetorik bleibt für mich die deutlich in die Zukunft gerichtete Frage, was wir, also die mit DDR- und ostdeutschem Hintergrund ausgestatteten Bürger*innen, denn in das gemeinsame Land einbringen können und wollen. Und das ist mehr als Fremdenfeindlichkeit, Ressentiment und Jammern und krude Sprechchöre.

Wurde den Ossis auch medial oft Unrecht getan? Ja! Isso. Aber mal ehrlich, wenn Andere Ossis darauf reduzieren, ist das schon schlimm genug. Das müssen wir nicht auch noch selbst machen. Richtigerweise müsste an dieser Stelle die Frage an mich lauten: Ja, was ist es denn nun, was euch ausmacht, und was ihr einbringen könntet. Jetzt mal Butter bei die Fische!

Ich will es mal auf einen Punkt reduzieren. Ab meinem 14. Lebensjahr hab ich in einer Welt im ständigen Wandel gelebt. Mauerfall – eben noch undenkbar. Und schon ist er passiert. Telefone zum Mitnehmen – gibt’s nur in Filmen. Und schon waren sie da. Große Banken können nicht pleite gehen. Und trotzdem gab es 2008 – auch wenn der Schock offenbar nicht tief genug reichte. Ausgerechnet im Osten wird nach 40 Jahren Antifaschismus wieder rechts gewählt. Was ich daraus schließe? Eine andere Welt ist möglich, immer und jederzeit. Unverrückbar Geglaubtes kann morgen infrage stehen.
Gestern Erkämpftes hat keinen Bestandsschutz in alle Ewigkeit. Ungerechtigkeiten von heute sind nicht das Ende der Geschichte.

Und manchmal braucht es eben offenbar auch den sich vergewissernden Blick zurück. Das Reiben an denen, die meine Welt, wie sie heute ist, gestern noch gemacht haben. Dieser Gesprächsband war genau dafür eine richtig gute Erinnerung daran für mich.

Kurz und gut: Streitbar und macht Lust aufs Streiten, im besten Sinne. Lesen!

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