Sonntag, 22. August 2021

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt



„Während dieses Buch geschrieben wurde, eskalierten in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzungen.“ (Seite 9)

Schon lange liegt auf meinem Stapel an Büchern, die ich noch lesen will, auch eines von Sahra Wagenknecht. Immerhin, egal was man parteipolitisch oder allgemein von ihr halten mag, wurde ihr über die Jahre doch von allen Seiten attestiert, dass ihre Bücher inzwischen sehr lesenswert seien. In diesem Jahr nun griff ich dann tatsächlich zu einem ihrer Bücher, allerdings, weil mich die kontroverse Debatte darum neugierig machte. Und ich gebe gern zu, dass ich nicht gänzlich unbefangen an die Lektüre ging.

Worum geht es nun, in diesem Band, der pünktlich parallel zur Listenaufstellung für die Wahlen zum Bundestag erschien. Während Sahra Wagenknecht sich auf Platz 1 der Landesliste der LINKEN in NRW wählen ließ, arbeitet sie sich in ihrem Buch an einer Politik ab, die angeblich zu sehr Minderheiten in den Blick nähme und die „normale“ Mehrheit vergessen würde. Diese Politik schreibt sie den „Lifestyle-Linken“ zu, die sie bei den Grünen aber auch bei der LINKEN verortet.

Wagenknecht steigt ein mit dem Bezug auf all die sattsam bekannten und beklagten aktuellen gesellschaftlichen Phänomene: gesellschaftliche Polarisierung, zunehmende Intoleranz gegen andere Meinungen, Verkapselung in Filterblasen etc. Überraschend ist aber, dass sie der Behauptung eines zunehmend rechten Zeitgeistes widerspricht. Sie macht andere Schuldige aus: Die Lifestyle-Linken. Also macht sie sich folgerichtig daran, dieses merkwürdige Phänomen zu beschreiben.

Aus dieser Beschreibung einer Schicht, die akademisch geprägt ist, eher zur gehobenen Mittelschicht gehört und im Grunde keine anderen Sorgen hat, als sich Verbote für den Rest der Menschheit auszudenken, entspringt ein offenbar ziemlich fest gezurrtes Feindbild. Allerdings fällt auf, dass die Autorin recht leichthändig Zuschreibungen vornimmt, was diese Schicht denn so alles denkt, eine tatsächliche soziologische Fundierung ist die Sache dieses Textes aber nicht. Sahra Wagenknecht behauptet und stellt fest. Nicht mehr und nicht weniger.

Der für meinen Geschmack wirklich garstige Move in ihrer Beschreibung ist, dass sie vordergründig mit ihren Unterstellungen und Behauptungen diese vorgeblichen Lifestyle-Linken angreift, damit aber letztlich die Anliegen diskreditiert, die sie ihnen zuschreibt. Und hierbei geht es um Minderheitenschutz und Minderheitenrechte, die Sahra Wagenknecht offenbar nur als Einschränkungen und Verbote für die „normale“ Mehrheit der Gesellschaft verstehen kann.

Die ist, laut der Autorin, eher nicht akademisch ausgebildet, bodenständig, heterosexuell, heimatverbunden und wird unbotmäßig mit gewaltfreier, gendergerechter Sprache und Achtsamkeitsvorstellungen der Lifestyle-Linken drangsaliert.

Hatte ich erwähnt, dass ich mich beim Lesen wirklich intellektuell verarscht gefühlt habe?

Wird von links ernsthaft in Frage gestellt, dass die gesellschaftliche Ungleichheit dazu führt, dass die große Mehrheit der Menschen immer weniger, eine kleine Minderheit aber immer mehr an Reichtum hat? Das wäre mir neu.

Sahra Wagenknecht will aber anscheinend nicht wahrhaben, dass die Minderheiten, die sie hier durch die Hintertür angreift, eben Teil dieser Mehrheit sind, die sie verteidigen will. Worüber regt sie sich also auf? Ich habe den Verdacht, dass sie das zunehmend lautstarke Einfordern von Gleichberechtigung und Teilhabe schlicht nicht versteht oder verstehen will. Doch so dezidiert, wie sie beschreibt, dass soziale Errungenschaften für ihre heißgeliebte Mehrheit bedroht sind und fragil angesichts immer noch neoliberaler Politik, so sehr ignoriert sie die Gründe für das verstärkte Einfordern von Gleichberechtigung.

Ja, soziale Errungenschaften werden auch ganz schnell zurückgedreht. Die Erfahrung der von ihr als „skurril“ bezeichneten Minderheiten ist aber eben genau dieselbe. Für nett und zurückhaltend vorgebrachte Bitten um Gleichberechtigung hat es eben kein Wahlrecht für Frauen, keinen Abbau von rassistischen Regelungen, keine Ehe für Alle usw. gegeben. All diese Dinge mussten erkämpft werden – und oft genug ohne großartige Unterstützung derer, für die sich Sahra Wagenknecht hier stark zu machen scheint. Und es ist eine der verbindenden Erfahrungen all dieser skurrilen Minderheiten, dass ihre Rechte bei gesellschaftlichen Umschwüngen als erste bedroht sind.

Anstatt Verbindendes für soziale Rechte und Minderheitenrechte zu finden, konstruiert Sahra Wagenknecht durch die Hintertür ein Gegeneinander. Frauenrechte, Minderheitenrechte – alles nur Nebenwidersprüche.

Ist es also ein Wunder, dass es für dieses Buch hauptsächlich hämischen Applaus von Rechts gab? Keinesfalls. Sie unterbreitet in ihrem Buch gerade denen, die gemeinsam um soziale Rechte für alle kämpfen sollten, die vergiftete Botschaft, dass die Lifestyle-Linken ihnen etwas wegnehmen wollten, um Minderheiten zu belohnen. Gegen wen soll sich dann wohl die Stimmung von Sahra Wagenknechts Mehrheit richten?

Dieses Buch war eine wirklich traurige Leseerfahrung. Wie hilfreich kann eine vielleicht gute Kapitalismuskritik von Sahra Wagenknecht sein, wenn sie gleichzeitig gesellschaftspolitisch derartig irrlichtert?

Auffällig fand ich im Übrigen auch, dass das Buch in seinen zwei Teilen merkwürdig zusammengeschustert erscheint. Während sie sich im ersten Teil an den Lifestyle-Linken abarbeitet, soll der zweie ja eigentlich ein gesellschaftliches Programm beschreiben. Über sattsam bekannte Kapitalismuskritik kommt dieser zweite Teil aber nicht hinaus. Ein Programm? Fehlanzeige.

Kurz und gut: Nö! Kein Stück erhellend. In weiten Teilen einfach nur ein garstiger Text.

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