Sonntag, 12. Juni 2022

Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Sonnenschein


(Übersetzung: Karl-Ludwig Wetzig)

 

„Am Anfang war das Blatt leer, unbeschriebenes, weißes Papier.“ (Seite 9)

 

Mitunter geraten meine literarischen Reisen ja schon etwas waghalsig. So steckte ich, bevor ich diesen Roman zu lesen begann, noch mitten in einem Familienepos in Vietnam. Der erste Satz von Helgason ließ mich dann sehr schnell in einem gewaltigen Schneesturm landen. Weiß mag dieses Island, wohin es mich hier verschlagen hat, ja sein, auch leer in vielen Teilen. Unbeschrieben ist es spätestens mit diesem grandiosen Roman für mich nicht mehr.

 

Helgason lässt in dieser Geschichte das karge Leben von Isländern im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Moderne treffen. Oder vielmehr trifft die Moderne ein – in Gestalt norwegischer Heringsfischer. Wie so oft glimmt da aber schon eine kleine Glut, die nur darauf zu warten scheint, entfacht zu werden. Ok, vielleicht schreibe ich doch erstmal etwas mehr zur Handlung. 😉

 

Durch den Schneesturm, den ich bereits erwähnte, kämpft sich ein Mann auf dem Weg zu seiner Familie. Er war einige Tagesmärsche unterwegs, um Mehl zu besorgen, und ist nun auf dem Rückweg. Der Fjord, in dem seine Behausung liegt, ist abgelegen. Seine Hütte ebenso. Doch von der findet er nichts mehr vor, als er ankommt. Als ihm klar wird, dass eine Schneelawine das Haus verschüttet haben muss, beginnt er zu buddeln. Eine Kuh und seinen zweijährigen Sohn kann er lebend erreichen. Die Frau und die Tochter findet er nur noch leblos vor.

 

Der Roman erzählt Gesturs Geschichte, des Jungen, der als Zweijähriger Mutter und Schwester verlor und als Einziger aus der Schneelawine gerettet werden konnte. Und in Gestur schlummert die kleine Glut, von ich oben schon schrieb.

 

Die Menschen in diesem fiktiven, abseits gelegenen Fjord leben in bitterer Armut und in steter Gefahr. Das Wetter ist rau, der Boden karg. Die Bauern leben in Hütten, eher noch befestigten Erdlöchern. Bäume, die Bauholz ergäben, gibt es hier keine. Mägde und Knechte leben im Grunde ein Sklavenleben. Abgesehen von den dürren eigenen Tieren und den dürftigen Ergebnissen der Landwirtschaft werden hier Haie gejagt.

 

Als Teenager kommt Gestur, nachdem er einige Jahre in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in einem richtigen Holzhaus gelebt hat, wieder zurück in den Fjord. Doch mit seiner jetzt neuen Familie und dem ärmlichen Leben will er sich nicht abfinden und türmt. Doch seine Flucht und die Zeit auf einem französischen Schiff führen in schließlich doch wieder in den Fjord zurück. Hier hadert er mit sich, seinen Mitmenschen, diesem erbärmlichen Leben.

 

Bis dann schließlich ein norwegisches Schiff eintrifft, mit einem charismatischen Kapitän, und dem für die Einheimischen lächerlichen Vorhaben, Heringe zu fangen. Heringe? Die gibt es zwar in rauen Mengen, aber wer käme auf die Idee, die fangen und essen zu wollen. Mit Bauholz, Geld und Tatendrang setzen die Norweger den Einzug der Moderne einfach so in kürzester Zeit in die Tat um. Und die Bevölkerung staunt und lässt sich anstecken, allen voran natürlich Gestur. Dies hier könnte seine Zeit werden.

 

Helgason erzählt in eher kurzen Kapiteln unglaubliche viele und detailreiche kleine Geschichten, die um den Fjord und natürlich die Hauptfigur kreisen. Er schleift die Leser:innen mit in die Erdkaten, proträtiert die früh alternden Gesichter, singt die Lieder und Geschichten, die hier der Unterhaltung und Erinnerung dienen. Mit großem Herz schreibt er über Engstirnigkeit, Ignoranz, Gewalt und Einsamkeit.

 

Der Erzählton spielt mit doppelten Böden, wohlwollendem Spott und verströmt eben doch eine große Liebe zu den Menschen und auch zu der Landschaft, dem Meer und dem unbeständigen Wetter. Ich weiß, man soll das nicht schreiben. Aber Helgason schreibt sprachgewaltig. 😊

 

Kurz und gut: Mein Urlaubsland wird Island nicht. Aber nach diesem Roman würde ich literarisch immer wieder dorthin reisen. Und dann auf jeden Fall mit Hallgrímur Helgason als Reiseleiter. Lesen!!!

 

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