Montag, 24. April 2017

Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten



„Schwungvoll kracht mein kleiner Kinderkörper gegen die Wohnzimmerwand. Auf allen vieren krieche ich zum Stahlofen in der hinteren Ecke des Raums. Ich spüre Tränen auf meiner Wange und wische sie weg. Während ich aufstehe, sehe ich den Behälter mit dem zum Verfeuern zurechtgeschnittenen Holz. Blitzartig reift ein Entschluss in mir.“ (Seite 9)

Mit einer drastischen Darstellung von Gewalt, Ohnmacht und Auflehnung beginnt Christian Baron seinen persönlichen Bericht über das Verhältnis der Gesellschaft zur Unterschicht – und des politisch linken Teils der Gesellschaft insbesondere.

In der Eingangsszene wird der Achtjährige von seinem betrunkenen Vater gegen die Wand geschleudert. Der Junge steht schließlich ohnmächtig wütend, trotzig mit einem über den Kopf erhobenen Holzscheit schlagbereit vor dem schon wieder apathischen Trinker auf dem Sofa.

Ein zweiter wichtiger Moment, den Baron schildert, ist der seiner akademischen Abschlussprüfung. Mit Angstschweiß auf der Stirn und zitternden Fingern bangt er dem Urteil der Prüfer entgegen – und hat es schließlich geschafft. Der Junge aus der Unterschicht, dessen Weg ganz gewiss nicht in dieser Weise vorgezeichnet war, hat es zum Akademiker gebracht.

Von früher kenne ich noch den Spruch: „Man bekommt zwar den Jungen aus dem Dorf, aber nie das Dorf aus dem Jungen.“ Daran musste ich beim Lesen dieses Buches oft denken, beschreibt Baron doch sehr eindringlich entlang seiner persönlichen Erfahrungen, wie sehr die Herkunft offenbar am Individuum haften bleibt, einer vielleicht unsichtbaren, aber immer präsenten und wahrnehmbaren Aura gleich.

Christian Baron hat sich aus einer nach seiner Schilderung nahezu beispielhaften Unterschichtenfamilie nach oben gearbeitet. Der Vater ein Trinker, die Mutter hilflos, bis sie dem Krebs viel zu jung erliegt. Christian und seine drei Geschwister haben Glück und kommen bei einer Tante unter. Die dort herrschenden „kleinen Verhältnisse“ eröffneten den Weg des sozialen Aufstiegs über Bildung. Das Buch schreibt er schließlich als Journalist und Redakteur bei der Tageszeitung neues deutschland. Der Ausbruch aus der vorgefertigten Biografie ist also gelungen.

Wie kommt es aber, dass er, der sich seinen Aufstieg im politisch linken Umfeld erarbeitet hat, immer wieder an Grenzen stieß, die durch diese Aura des Unterschichtenkindes provoziert scheinen: Unsicherheiten, wenn alle um einen herum so eloquent die Welt erklären können; Gefühle der Minderwertigkeit, weil andere so selbstsicher ihren Platz in der Welt behaupten; der Impuls, sich wegducken zu wollen, wenn die Mittelstandslinken beim stilechten Rotwein die Nase rümpfen über die sozial Abgehängten und deren Unfähigkeit, kulturell oder habituell mitzuhalten.

Trotzdem Baron die eigene Biografie als roter Faden seines Buches dient, beschreibt er doch das gesamtgesellschaftliche Phänomen des unentwegten Nach-unten-Tretens. Es lässt sich auch bei jenen feststellen, die selbst nicht viel haben und sich am unteren Rand der Mittelschicht bewegen. Baron schildert, wie das mediale Bild von der verblödeten, verrohten, arbeitsscheuen und versoffenen Unterschicht durchsickert und wiederkehrt in politischen Diskursen à la Hartz IV, aber gleichsam in Haltungen von politisch links orientierten und aktiven Menschen, die sich letztlich oft genug ebenso akademisch-elitär gebärden wie andere auch, von denen sie sich eigentlich abzugrenzen suchen.

Ich habe Barons Buch nicht als Anklage gegen linke Akademiker gelesen, sondern vielmehr als einen Hinweis darauf, dass die politische Haltung allein noch keinen besseren Menschen macht. Der Autor liegt mit seinen Schilderungen und Schlussfolgerungen durchaus im Trend, wenn ich an die umfangreichen Besprechungen zu Didier Eribon im letzten Jahr denke: Die Abgehängten unserer Gesellschaft müssen endlich wieder ernst genommen werden, es muss ihnen eine eigene Stimme zugebilligt werden, und zur Beschreibung der Gesellschaft sollte endlich wieder auf den Begriff der Klasse zurückgegriffen werden.

Beim Lesen konnte ich in jedem Fall eine ganze Reihe von Mechanismen wiederentdecken, die ich selbst aus dem politischen Betrieb kenne. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch viele Leser*innen findet. Für heftige Debatten sorgte es wohl schon, wenn ich Gerüchten dazu glauben darf. ^^

Also: Lesen!

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