„Einmal war bei einer Prügelei zwischen zwei Brüdern der
eine der beiden ums Leben gekommen.“ (Seite 9)
Der überlebende Bruder wird beim Oberhaupt des Klans als
Mörder angezeigt. Der verurteilt ihn zum Tode. Währenddessen ruft der so
Beschuldigte in seinem Versteck Freunde zusammen und erzählt von einem ganz anderen
Tathergang. Der tote Bruder habe ihn betrogen und verprügelt und sei dann im
Handgemenge einer Verletzung erlegen.
Es wird beschlossen, dass ab sofort ein Gremium solche Vorfälle
prüfen und bewerten müsse, um dann eine gemeinsame Lösung zu finden. Der
Klanälteste solle nicht länger allein entscheiden und urteilen, sondern vielmehr
nur noch das Urteil des Gremiums vollstrecken, dem er auch nicht länger angehören dürfe.
Diese Geschichte stellt der Ethnologe Hermann Amborn seiner
Studie über gesellschaftliche Rechtsprechung jenseits eines staatlichen
Gewaltmonopols voran. Sie spielt in Südäthiopien vor langer, langer Zeit.
Das klingt für unsere Ohren ja ein wenig nach heiler Welt
und lässt uns aufgeklärte Bürger*innen gleich skeptisch schauen. Jede
Rechtsprechung, bei der Justitia nicht ihren Auftritt mit verbunden Augen hat,
erscheint uns irgendwie zwangsläufig als rückständig – im Guten wie im Schlechten.
Zugleich wachsen wir auf mit der tiefsitzenden Erkenntnis,
dass Rechthaben und Rechtbekommen nicht dasselbe ist. Was aber Anderes offenbart
dies als ein eigentliches Misstrauen gegenüber unserem eigenen Rechtssystem? Wie blind
ist Justitia wirklich, wenn man das System nur gut genug kennen und verstehen muss,
um es zu seinen Gunsten auszunutzen – oder sich diese Expertise
kaufen kann?
Wenn unser Rechtssystem damit diejenigen begünstigte, die
über hinreichend Wissen und Fähigkeiten verfügen, oder über genügend Geld,
hätten die ja nun mehr als genug Gründe, dieses System nicht zu verändern.
Zugleich dürften sie gerade diejenigen sein, die wenigstens indirekt dieses System
beherrschen. Nicht zu vergessen, dass Rechtspfleger*innen jeder Art – Anwälte,
Richter*innen etc. – in einem solchen Rechtssystem per se nicht zu den
Marginalisierten gehörten.
Wie merkwürdig dürfte ein solches Rechtswesen auf Menschen
wirken, die in einer anarchischen Gesellschaft leben, die ihre Angelegenheiten
nicht mittels eines Staatswesens organisiert. Nicht das Durchsetzen des Staatswohls
stünde für sie im Vordergrund, sondern das harmonische Funktionieren der
Gesellschaft selbst. Staatswohl und das Wohl der Gesellschaft fielen in eins;
eine Staatselite könnte sich so nur schwer etablieren.
Allen Gedankenspielen zum Trotz würde ich unser Rechtssystem sehr ungern gegen die meisten anderen existierenden Rechtssysteme eintauschen. Überaus
spannend und anregend fand ich die Lektüre von Amborns Studie, weil sie ganz
unaufgeregt darauf hinweist, dass unsere Realität auch nur eine von vielen ist,
dass Gesellschaften sich auch anders entwickelten und dies nicht gleichbedeutend
mit Rückständigkeit sein muss. Ganz nebenher rückt Amborn auch das Bild von
anarchischen Gesellschaften ein wenig gerade, das eben nicht zwangsläufig
Chaos, Willkür und Gewalt bedeuten muss.
Der Band erschien in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ bei
Matthes & Seitz, die ich wegen der Auswahl der Titel, dem herrlich
ungewöhnlichen Format und der tollen Gestaltung sehr mag.
Kurz: Auch wenn der Stoff sicher nicht jede*n begeistern
wird, empfehle ich das Büchlein gern weiter.
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