Samstag, 30. Dezember 2017

Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do



„Bürger, versammelt euch um die Lautsprecher, denn wir haben wichtige Meldungen für euch! In euren Küchen, euren Büros, euren Fabriken – wo ihr auch sein mögt, dreht die Lautstärke auf!“ (Seite 7)

Willkommen in Nordkorea, wo die Geschichte eines Menschen alles und der Mensch selbst nichts ist. Aufbauend auf dieser Prämisse lernen wir Jun Do, einen nordkoreanischen John Doe kennen – oder besser seine Geschichte.

Jun Do wächst in einem Waisenhaus auf, das von seinem Vater geleitet wird, während die Mutter verschollen ist. Um ihn nicht vor allen anderen Kindern herauszuheben, wird Jun Do so behandelt wie alle anderen Kinder in dem Heim auch. Das bedeutet unter anderem niedrigste und gefährlichste Arbeiten für Fabriken zu erledigen, die sich die Kinder dafür ausleihen oder sie gleich dafür adoptieren. Das Leben eines Waisenkindes zählt nichts, und ohne Eltern aufzuwachsen ist ein nicht wieder reinzuwaschender Makel.

Jun Do überlebt und wird Tunnelkämpfer, absolviert ein Schmerztraining, entführt im Auftrag der Mächtigen des Landes Menschen aus Japan und landet schließlich als Funker mit Geheimauftrag auf einem Fischkutter. Hier erlebt er erstmals den Wert von Freundschaft, während er des Nachts in die unendlichen Weiten des Ozeans lauscht. Hier verspürt er Frieden und so etwas wie Glück.

Doch seine Geschichte treibt ihn weiter. Nach dramatischen Entwicklungen, aus denen er als ausgezeichneter Held des Regimes hervorgeht, begleitet er eine Delegation seines Landes in die USA. Die Verhandlungen mit einem texanischen Senator sind geprägt und unglaublicher Naivität und haufenweise kulturellen Missverständnissen. Die Heimkehr führt die Delegationsteilnehmer direkt in die Arme von folterwütigen Verhörspezialisten des notorisch misstrauischen Regimes. Jun Do verschwindet in einem Gefängnisbergwerk, das er getreu dem oben erwähnten Motto als ein Anderer wieder verlassen wird, um eine neue Geschichte zu leben – weil es dem Regime so gefällt.

Diese neue Geschichte wird aus der Perspektive wird aus der Sicht eines Verhörspezialisten in Pjöngjang erlebt, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichten seiner „Klienten“ zu sammeln, bevor sie mittels Elektroschocks ihrer Erinnerungen beraubt werden, um ein „neues Leben“ als nützliches Mitglied der Gesellschaft zu beginnen. Wo Jun Do fast ohne eigenen Antrieb durch die Geschichte seines Lebens treibt oder gezogen wird, ringt der Vernehmungsbeamte um die Hoheit über seine eigene Geschichte.

Adam Johnson hat einen unglaublich tragikomischen Schelmenroman geschrieben, der tief eintaucht in die Schizophrenie eines totalitären Systems, in dem alle nur beliebig einsetzbare Figuren für den Geliebten Führer sind. Anstelle reißerischer Beschreibungen eines unmenschlichen und entmenschlichenden Regimes nutzt Johnson die Macht einer unschuldig-naiven Perspektive, aus der es das Normalste der Welt ist, dass Staatstreue über allem steht.

Ehemänner und –frauen werden zugewiesen wie der Ersatz für sie, wenn jemand in einem der unzähligen Lager des Landes verschwindet. Dafür braucht es keinen besonderen Grund, und erklärt werden muss er schon gar nicht. Die Stimme des Regimes, die in Form von Lautsprecheransagen im Roman immer wieder zu Wort kommt, führt in Perfektion vor, was wir als „Neusprech“ schon von George Orwell kennengelernt haben. Das ist an Zynismus kaum zu überbieten angesichts all der Momente, in denen der Roman davon erzählt, wie sich Menschen verbiegen und verleugnen müssen und um das nackte Überleben oder auch nur einen kleinen, für uns schier lachhaften Vorteil ringen.

Das alles ist so bitterböse und zugleich poetisch beschrieben, dass ich mich dem erzählerischen Sog des Romans kaum entziehen mochte. Egal wie viel vom Beschriebenen der Autor bei seinen Recherchen auch vor Ort gesehen haben mag, im Roman wird es so absurd wie plausibel. Und bevor wir uns jetzt damit beruhigen, dass die Handlung ja im Reich des Bösen in Nordkorea spielt, sei darauf hingewiesen, wie dicht beieinander Propaganda, „Neusprech“ und alternative Fakten liegen, die auch unsere Welt heute zur Genüge durchziehen.

Kurz: Krasser Scheiss – Lesen, kein Scherz!

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