„Bürger, versammelt euch um die Lautsprecher, denn wir haben
wichtige Meldungen für euch! In euren Küchen, euren Büros, euren Fabriken – wo
ihr auch sein mögt, dreht die Lautstärke auf!“ (Seite 7)
Willkommen in Nordkorea, wo die Geschichte eines Menschen alles
und der Mensch selbst nichts ist. Aufbauend auf dieser Prämisse lernen wir Jun
Do, einen nordkoreanischen John Doe kennen – oder besser seine Geschichte.
Jun Do wächst in einem Waisenhaus auf, das von seinem Vater
geleitet wird, während die Mutter verschollen ist. Um ihn nicht vor allen
anderen Kindern herauszuheben, wird Jun Do so behandelt wie alle anderen Kinder
in dem Heim auch. Das bedeutet unter anderem niedrigste und gefährlichste
Arbeiten für Fabriken zu erledigen, die sich die Kinder dafür ausleihen oder
sie gleich dafür adoptieren. Das Leben eines Waisenkindes zählt nichts, und
ohne Eltern aufzuwachsen ist ein nicht wieder reinzuwaschender Makel.
Jun Do überlebt und wird Tunnelkämpfer, absolviert ein
Schmerztraining, entführt im Auftrag der Mächtigen des Landes Menschen aus
Japan und landet schließlich als Funker mit Geheimauftrag auf einem
Fischkutter. Hier erlebt er erstmals den Wert von Freundschaft, während er des
Nachts in die unendlichen Weiten des Ozeans lauscht. Hier verspürt er Frieden
und so etwas wie Glück.
Doch seine Geschichte treibt ihn weiter. Nach dramatischen
Entwicklungen, aus denen er als ausgezeichneter Held des Regimes hervorgeht,
begleitet er eine Delegation seines Landes in die USA. Die Verhandlungen mit
einem texanischen Senator sind geprägt und unglaublicher Naivität und
haufenweise kulturellen Missverständnissen. Die Heimkehr führt die
Delegationsteilnehmer direkt in die Arme von folterwütigen Verhörspezialisten
des notorisch misstrauischen Regimes. Jun Do verschwindet in einem
Gefängnisbergwerk, das er getreu dem oben erwähnten Motto als ein Anderer
wieder verlassen wird, um eine neue Geschichte zu leben – weil es dem Regime so
gefällt.
Diese neue Geschichte wird aus der Perspektive wird aus der Sicht
eines Verhörspezialisten in Pjöngjang erlebt, der es sich zur Aufgabe gemacht
hat, die Geschichten seiner „Klienten“ zu sammeln, bevor sie mittels
Elektroschocks ihrer Erinnerungen beraubt werden, um ein „neues Leben“ als
nützliches Mitglied der Gesellschaft zu beginnen. Wo Jun Do fast ohne eigenen
Antrieb durch die Geschichte seines Lebens treibt oder gezogen wird, ringt der
Vernehmungsbeamte um die Hoheit über seine eigene Geschichte.
Adam Johnson hat einen unglaublich tragikomischen Schelmenroman
geschrieben, der tief eintaucht in die Schizophrenie eines totalitären Systems,
in dem alle nur beliebig einsetzbare Figuren für den Geliebten Führer sind.
Anstelle reißerischer Beschreibungen eines unmenschlichen und
entmenschlichenden Regimes nutzt Johnson die Macht einer unschuldig-naiven
Perspektive, aus der es das Normalste der Welt ist, dass Staatstreue über allem
steht.
Ehemänner und –frauen werden zugewiesen wie der Ersatz für sie,
wenn jemand in einem der unzähligen Lager des Landes verschwindet. Dafür
braucht es keinen besonderen Grund, und erklärt werden muss er schon gar nicht.
Die Stimme des Regimes, die in Form von Lautsprecheransagen im Roman immer
wieder zu Wort kommt, führt in Perfektion vor, was wir als „Neusprech“ schon
von George Orwell kennengelernt haben. Das ist an Zynismus kaum zu überbieten
angesichts all der Momente, in denen der Roman davon erzählt, wie sich Menschen
verbiegen und verleugnen müssen und um das nackte Überleben oder auch nur einen
kleinen, für uns schier lachhaften Vorteil ringen.
Das alles ist so bitterböse und zugleich poetisch beschrieben,
dass ich mich dem erzählerischen Sog des Romans kaum entziehen mochte. Egal wie
viel vom Beschriebenen der Autor bei seinen Recherchen auch vor Ort gesehen
haben mag, im Roman wird es so absurd wie plausibel. Und bevor wir uns jetzt
damit beruhigen, dass die Handlung ja im Reich des Bösen in Nordkorea spielt,
sei darauf hingewiesen, wie dicht beieinander Propaganda, „Neusprech“ und
alternative Fakten liegen, die auch unsere Welt heute zur Genüge durchziehen.
Kurz: Krasser Scheiss – Lesen, kein Scherz!
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