Sonntag, 15. April 2018

Wolfgang Ehmer: Anderer Welten Kind



„Die Geschichte ging so:
‚Sein Vater hatte bei einem Angriff der Russen in Charkow sein Bein verloren, als er in einen Bombentrichter sprang, um einen Kameraden zu retten. Sein Unglück war, dass eine zweite Granate, von einem russischen Panzer abgeschossen, der sich auf den Trichter zubewegte, neben ihm explodierte und ihn so schwer verletzte, dass das rechte Bein amputiert werden musste.‘“ (Seite 5)

Dies ist die Art Geschichten, mit denen Christian aufwächst. Er ist sechzehn und lebt im Lübeck des Jahres 1957. Seine Familie und die seines besten Freundes haben „rübergemacht“ und versuchen nun im Westen fußzufassen und wirklich anzukommen.

Sie eint das Hochhalten der Erinnerung an soldatische Tugenden und vermeintliche Heldentaten, die Scham der späten Flüchtlinge, ein miefig-biederes Ehrgefühl verbunden mit Strenge und Unduldsamkeit in der Familie und der unbedingte Wille, es hier im Westen zu etwas zu bringen.

Die gutbürgerliche Gesellschaft, deren Anerkennung sie stillschweigend erhoffen, ist dagegen schon längst erfasst von Rock ’n’ Roll, Jeans und einem deutlich anderen Lebensgefühl. Während sich die Eltern noch mit preußischen Tugenden glauben hocharbeiten zu können, spüren die Kinder schon längst die Standesunterschiede in der Schule. Auf der einen Seite sie, die Habenichtse, die scheinbar noch in einer überkommenen Welt leben. Auf der anderen die weltoffenen, eloquenten Nachkriegsgewinner.

Christian sitzt zwischen allen Stühlen. Sein künstlerisches Interesse am Malen und Zeichnen ist dem Vater das sichtbare Zeichen der Verweichlichung. Einzig das Rudern im Verein gilt ihm als Hoffnung, dass aus dem Jungen doch noch ein richtiger Mann werden könnte.

In der Schule ergibt sich die Beziehung zu Helga, in die er fast schon irgendwie hineinschlittert. Als Tochter aus gutem Hause, mit bester Erziehung und Bildung, modern, selbstbestimmt, steht sie für seinen Willen auszubrechen, aus dem engen Korsett, das ihm seine Familie um Brust und Kopf schnürt. Er kann aber zugleich auch nicht fassen, dass sie ihn ausgesucht hat. Sein Verhalten Helga gegenüber bleibt ambivalent zwischen sich mitreißen lassen und Minderwertigkeitsgefühlen.

Und als wenn das nicht schon genug wäre, gibt es da auch noch sein geheimes Leben, das er hütet wie einen Schatz. Von künstlerischer Neugier angetrieben forscht er einem Maler in der Nachbarschaft nach, der mit einem Skandal auf sich aufmerksam machte, und stößt dabei auf einen anderen. Ricky van Dülmen zieht Christian zunächst mit seiner dandyhaften Attitüde an, und der fühlt sich von dem Jugendlichen angezogen. Eigentlich erhofft sich Christian über Ricky Zugang zu dem Maler, aber bald schon verändert sich ihr Verhältnis zueinander.

Beim Rumblödeln in Rickys Wohnung verkleiden sie sich mit Frauenkleidern und schießen Fotos. Langsam dämmert es Christian, dass Ricky ein 175er ist, und was das bedeutet.

Er will Helga lieben und begehren und scheitert immer wieder an seiner eigenen Sprachlosigkeit. Auch der Versuch, sich vom Vater zu emanzipieren und den alljährlichen gemeinsamen Besuch des revanchistischen Veteranentreffens zu verweigern, endet mit Christians Unvermögen die richtigen – seine – Worte zu finden. Und als eines der Fotos, die er mit Ricky gemacht hatte, in der Zeitung erscheint, weil Ricky als Homosexueller in einen öffentlichen Skandal verwickelt ist, da bricht Christians mühsam zusammen gehaltene Welt endgültig auseinander.

„Anderer Welten Kind“ beschreibt die bedrückend enge geistige Welt der 50er Jahre recht eindringlich. Nicht nur das Geflecht an Erwartungen und Anforderungen, denen Christian so wenig gewachsen ist, wird offengelegt. Auch die prüde Biederkeit, mit der Homosexuelle immer noch verfolgt werden, die sie immer noch zu einem Leben im Untergrund zwingt, schildert Wolfgang Ehmer ausführlich. Es entsteht ein Sittengemälde vom Leben im Lübeck der Nachkriegszeit, das nicht schillert, und wo jeder Funke Hoffnung auf Neuerung und Neuanfang beschwert wird von moralischen Vorstellungen und Zwängen, als wenn der Krieg noch andauerte.

Auch wenn ich Ehmers Sprache mag, störte mich doch die Zeichnung der Figur von Christian. Dass der so sehr zaudert und zagt, dass ich ihn beim Lesen immer wieder gern beim Kragen gepackt und in Bewegung geschubst hätte, das ist die eine Sache. Aber leider psychologisiert Ehmer immer wieder enervierend lang, anstatt seine Figuren machen zu lassen. Show, don´t tell – das hätte ich am liebsten auf sehr viele der Seiten geschrieben. Trotzdem mochte ich das Buch, gerade weil Ehmer es eben auch schafft, diese enge, bedrückende Atmosphäre einzufangen.

Kurz und gut: Jenseits all der Wirtschaftswundergeschichten müssen auch sehr viel mehr der Geschichten erzählt werden, die die gesellschaftlichen Brüche und die Verwerfungen, denen die Menschen in ihnen ausgesetzt waren, zum Thema machen. Ehmers Buch erzählt eine dieser Geschichten.

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