Samstag, 14. April 2018

Philippe Ôtié/ Li Kunwu: Ein Leben in China. Band 2: Die Zeit der Partei



„Mein lieber Vater,
nun sind bereits vier Tage vergangen seit der Vorsitzende Mao uns verlassen hat. Nie hätte ich gedacht, dass dies geschehen könnte, dass wir ohne ihn leben müssen, alleine, hilflos.

Mich quält ein Gefühl bodenloser Leere, es erinnert mich daran, wie wir uns damals fühlten, Mama, Meimei und ich, als die Roten Garden dich vor zehn Jahren mitnahmen.

Viele hier in der Kaserne essen und schlafen nicht mehr.

Einerseits trauern wir noch immer um unseren Vorsitzenden, andererseits wissen wir nicht, was aus der Kulturrevolution werden soll. Das macht uns große Angst.

Ich mache mir Sorgen um dich.

Dein Sohn, Xiao Li“ (Seiten 9-11)

Es mutet schon reichlich skurril an, wenn der Sohn an den leiblichen Vater schreibt, voller Trauer über den Tod Maos. Der Vater sitzt währenddessen in einem Umerziehungslager, in das er aufgrund der von Mao losgetretenen Kulturrevolution in China erst gesteckt wurde. Und doch leiden beide zugleich am Tod Maos, der beiden zugleich – und mit ihnen Millionen von Chinesen – als Vaterfigur galt.

Schon im ersten Band der Erinnerungen Li Kunwus war eine Welt zu bestaunen, von deren Funktionieren ich mir wirklich kaum eine Vorstellung machen kann. Nicht viel weniger staunend lese ich von den nächsten Jahren, die hier als „Zeit der Partei“ bezeichnet werden.

Xiao Li ist Soldat als die Nachricht vom Tode Maos das Land und die Menschen erschüttert. In allem Chaos und Terror der Kulturrevolution war er den Menschen offenbar immer noch Fix- und Leitstern. Die Zeit scheint für einen kurzen Moment den Atem anzuhalten. Die Menschen erstarren in Trauer und Angst vor der Ungewissheit darüber, was nun kommen mag.

Die Machtauseinandersetzungen in Herzen des Apparates hallen in den Weiten des Landes als Selbstvergewisserung nach, dass all die Entbehrungen, das Leiden, der Hunger, die Repression nicht umsonst gewesen sein dürfen. Die Klärung der Machtfrage im Zentrum endet mit dem Benennen von Schuldigen für die Auswüchse der Kulturrevolution und dem Schwenk hin zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft – durchaus auch nach westlichen Maßstäben. Die Verurteilung der „Viererbande“ scheint die Zeit der Ungewissheit zu beenden und führt zu Freudenfeiern bei den Menschen.

Einzigen Halt während der Ungewissheit bietet Xiao Li die Partei, oder auch die Idee von der Partei. Mehrfach scheitert er mit dem Versuch endlich als Mitglied aufgenommen zu werden. Tiefe Scham erfüllt ihn gegenüber seinem Vater, als sein Gesuch zunächst abgelehnt wird. Xiao Li erlegt sich ein entbehrungsreiches Programm auf, um sich der Aufnahme endlich würdig zu erweisen.

Ich empfinde es als Stärke der Erzählung, dass sie nicht versucht Geschichtsschreibung zu ersetzen, sondern ganz bei der Perspektive Xiao Lis bleibt. Das macht es zwar notwendig, die eine oder andere historische Entwicklung nachzuschlagen, eröffnet aber uns westlichen Lesern einen Blick auf die Menschen, die in diesen Zeiten und an diesem Ort versuchten ihr Leben zu leben. Der Preis ist die Erkenntnis, dass manches, das für unser Verständnis ungeheuerlich erscheint, im China der Zeit womöglich anders gewichtet und wahrgenommen wurde.

Einmal mehr lässt mich Li Kunwus Geschichte mit vor Staunen offenem Mund darüber zurück, was Menschen im Namen einer Idee zu ertragen bereit sind, und welch ungeheure Macht von Ideen ausgeht. Was sind unsere Ideen?

Kurz und gut: Beeindruckend in seiner erzählerischen Kraft, kein Strich zu viel oder zu wenig – und zu meinem Glück als Leser gibt es noch den dritten Band. 😉

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