„Mein lieber Vater,
nun sind bereits vier Tage vergangen seit der Vorsitzende Mao uns
verlassen hat. Nie hätte ich gedacht, dass dies geschehen könnte, dass wir ohne
ihn leben müssen, alleine, hilflos.
Mich quält ein Gefühl bodenloser Leere, es erinnert mich daran,
wie wir uns damals fühlten, Mama, Meimei und ich, als die Roten Garden dich vor
zehn Jahren mitnahmen.
Viele hier in der Kaserne essen und schlafen nicht mehr.
Einerseits trauern wir noch immer um unseren Vorsitzenden, andererseits
wissen wir nicht, was aus der Kulturrevolution werden soll. Das macht uns große
Angst.
Ich mache mir Sorgen um dich.
Dein Sohn, Xiao Li“ (Seiten 9-11)
Es mutet schon reichlich skurril an, wenn der Sohn an den
leiblichen Vater schreibt, voller Trauer über den Tod Maos. Der Vater sitzt
währenddessen in einem Umerziehungslager, in das er aufgrund der von Mao
losgetretenen Kulturrevolution in China erst gesteckt wurde. Und doch leiden
beide zugleich am Tod Maos, der beiden zugleich – und mit ihnen Millionen von
Chinesen – als Vaterfigur galt.
Schon im ersten Band der Erinnerungen Li Kunwus war eine Welt zu
bestaunen, von deren Funktionieren ich mir wirklich kaum eine Vorstellung
machen kann. Nicht viel weniger staunend lese ich von den nächsten Jahren, die
hier als „Zeit der Partei“ bezeichnet werden.
Xiao Li ist Soldat als die Nachricht vom Tode Maos das Land und
die Menschen erschüttert. In allem Chaos und Terror der Kulturrevolution war er
den Menschen offenbar immer noch Fix- und Leitstern. Die Zeit scheint für einen
kurzen Moment den Atem anzuhalten. Die Menschen erstarren in Trauer und Angst
vor der Ungewissheit darüber, was nun kommen mag.
Die Machtauseinandersetzungen in Herzen des Apparates hallen in
den Weiten des Landes als Selbstvergewisserung nach, dass all die Entbehrungen,
das Leiden, der Hunger, die Repression nicht umsonst gewesen sein dürfen. Die
Klärung der Machtfrage im Zentrum endet mit dem Benennen von Schuldigen für die
Auswüchse der Kulturrevolution und dem Schwenk hin zur Modernisierung von
Wirtschaft und Gesellschaft – durchaus auch nach westlichen Maßstäben. Die
Verurteilung der „Viererbande“ scheint die Zeit der Ungewissheit zu beenden und
führt zu Freudenfeiern bei den Menschen.
Einzigen Halt während der Ungewissheit bietet Xiao Li die Partei,
oder auch die Idee von der Partei. Mehrfach scheitert er mit dem Versuch endlich
als Mitglied aufgenommen zu werden. Tiefe Scham erfüllt ihn gegenüber seinem
Vater, als sein Gesuch zunächst abgelehnt wird. Xiao Li erlegt sich ein
entbehrungsreiches Programm auf, um sich der Aufnahme endlich würdig zu
erweisen.
Ich empfinde es als Stärke der Erzählung, dass sie nicht versucht
Geschichtsschreibung zu ersetzen, sondern ganz bei der Perspektive Xiao Lis
bleibt. Das macht es zwar notwendig, die eine oder andere historische
Entwicklung nachzuschlagen, eröffnet aber uns westlichen Lesern einen Blick auf
die Menschen, die in diesen Zeiten und an diesem Ort versuchten ihr Leben zu
leben. Der Preis ist die Erkenntnis, dass manches, das für unser Verständnis
ungeheuerlich erscheint, im China der Zeit womöglich anders gewichtet und
wahrgenommen wurde.
Einmal mehr lässt mich Li Kunwus Geschichte mit vor Staunen
offenem Mund darüber zurück, was Menschen im Namen einer Idee zu ertragen
bereit sind, und welch ungeheure Macht von Ideen ausgeht. Was sind unsere
Ideen?
Kurz und gut: Beeindruckend in seiner erzählerischen Kraft, kein
Strich zu viel oder zu wenig – und zu meinem Glück als Leser gibt es noch den
dritten Band. 😉
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