Sonntag, 29. April 2018

Philippe Ôtié/ Li Kunwu: Ein Leben in China. Band 3: Die Zeit des Geldes



„Naiverweise dachten Li und ich anfangs, dass die größte Herausforderung bei dieser Arbeit darin bestehen würde, möglichst nahe am Genre der Autobiografie und also am realen Leben der Hauptperson Lao Li zu bleiben, ohne die Realität zu verbiegen oder den Leser mit den Details der durchaus friedlichen Existenz eines Menschen zu langweilen, der so gar nicht das Zeug zum Helden hat.
Wir hatten ja keine Ahnung.“ (Philippe Ôtié, Vorwort, Seite 7)

Dass die Erzählung „Ein Leben in China“ ein echtes Mammutprojekt war, macht schon der Umfang der drei Bände, wenn sie so nebeneinander liegen, deutlich genug. Im Vorwort zum letzten Band beschreibt der Autor Philippe Ôtié aber noch eine weitere Herausforderung, der er sich zusammen mit dem Zeichner Li Kunwu gegenübersah.

Lis Leben sollte der rote Faden sein. Zugleich würde Li aber in den Augen der Leser_innen, in und auch außerhalb Chinas, zu einer Figur, in der alle anderen Chines_innen seiner Zeit zusammenfließen würden. Auch der französische Autor würde zum Fremden schlechthin, der sich China fragend zu erschließen sucht. Das Selbstverständnis des chinesischen Volkes und die eigenen bitteren, wie auch mitreißenden Erfahrungen prallen auf die Sicht von außen, der so vieles an Gründen und Entwicklungen in China verschlossen bleibt.

Einmal mehr versuchte ich beim Lesen, nicht der Faszination am Exotischen zu erliegen, sondern erinnerte mich an die Zeit der Transformation von der kollektivistisch geprägten, realsozialistischen Gesellschaft hin zum Leben im Kapitalismus, wie wir es in einem Teil Deutschlands seit der Wende ja auch erlebt haben.

Dabei erlebte ich noch einmal das Staunen darüber, wie schnell Menschen sich anpassen können. Vermeintlich längst überwundene Verhaltensweisen, Moralvorstellungen kehren zurück – oder werden wieder sichtbar, weil sie womöglich nie ganz verschwunden waren.

Nach den Schilderungen der Entbehrungen während der großen Hungersnot, der Rolle von Mao und der Partei für das Leben der einzelnen Menschen, der Auswirkungen von Kulturrevolution und Großem Sprung auf das Gefüge der chinesischen Gesellschaft, der Familien und der individuellen Lebensläufe – da ist es frappierend zu sehen, wie rasant sich Spielregeln ändern können und wie schnell Menschen bereit und in der Lage sind, dies zu akzeptieren und danach zu handeln. Eben noch war schon die Herkunft aus einer Familie von Großgrundbesitzern ein fast nicht zu tilgender Makel, schon gilt das Streben nach Gewinn als einzig denkbares Lebensziel. Eben noch Bekenntnisse zum antifaschistischen Schutzwall und schon geht es weiter im selbstoptimierten Sauseschritt hin zur Eigentumswohnung und zu Selbstoptimierung für die bessere Selbstvermarktung.

Der Unterschied ist, dass dieser Wandel in China von der gleichen Partei verordnet wurde, die zuvor schon das Leben bestimmte. Die die Parolen vorgab und weiter vorgibt. Ob das Abstreifen eines gelebten Lebens, wie wir es im Osten Deutschlands so oft erleben mussten, der gesündere Weg ist, darüber lässt sich sicher hinreichend streiten. „Ein Leben in China“ zwingt, wie ich finde, zum Relativieren vermeintlich sicherer moralischer Positionen dazu, was das richtige Leben sei. Nicht, weil das Leben dort romantisch verklärt vorgestellt würde. Vielmehr lädt das Zeigen eines Lebens, wie es auch möglich ist, zum Hinterfragen des eigenen Weges ein. Das gilt umso mehr, wenn nicht nur ein isoliertes, individuelles Leben gezeigt, sondern eben auch die Gesellschaft mit ihren Anforderungen an den Einzelnen dargestellt wird.

Kurz und gut: Lest „Ein Leben in China“! Einmal mehr, danke, Edition Moderne! ;)

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