Dienstag, 16. Juni 2020

Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme




(Übersetzung: Angelica Ammar)

„Sie kamen durch die Bresche vom Fluss her zum Kanal, die Schleudern bereit zum Kampf, die Augenlider im gleißenden Mittagslicht zusammengekniffen, fast vernäht.“ (Seite 9)

Irgendwo im Nirgendwo in Mexiko, in einem Kaff, dessen Name vermutlich vollkommen egal ist, weil es ohnehin gerade mal eine Landstraße gibt, die andere Gegenden verbindet, und einen Fluss, einen Kanal und Felder, dort finden ein paar Kinder eine Leiche im Wasser treibend. Dass es die Leiche der Hexe ist, die am Rande der Ortschaft lebte, fast eher Phantom als real, steht fest. Warum sie dort liegt, wer beteiligt war, unmittelbar oder auch nur am Rande, das erzählt Fernanda Melchor fulminant.

In den einzelnen Kapiteln stellt sie Menschen vor, deren Leben in irgendeiner Weise mit dem der Hexe verbunden sind. So entsteht ein Geflecht aus Beziehungen, Verwicklungen, das anhand dieser überschaubaren Anzahl von Menschen das Leben in diesem Kaff zum Leben erweckt.

Ich drücke mich hier ein wenig darum herum, viel von der Geschichte zu erzählen, weil das Aufdröseln all dieser Fäden beim Lesen genau dieses unglaublich intensive Erleben ausmacht. Zwei Mittel, mit denen Melchor das gelingt will ich aber wenigstens zu beschreiben versuchen.

Texte, deren Sätze kaum ein Ende finden, und die innerhalb einzelner Kapitel kaum einen Absatz aufweisen, find ich ja oft genug ganz anstrengend zu lesen. Fernanda Melchor hat mich mit diesem Mittel nach dem zweiten Kapitel vollends in ihren erzählerischen Bann geschlagen. Weil es keinen Absatz gibt, der das Auge zum Ausruhen einlädt, wirbelte der Text mich in seinem Fluss mit sich herum. Selbst die unglaublich langen Sätze und all die Volten, die sie schlagen, haben mit mitgerissen und das Lesetempo weiter angepeitscht.

Zugleich, und das ist das zweite Mittel, das sie so grandios zu nutzen weiß, sind die Geschichten der verschiedenen Personen und deren Perspektiven bis in kleinste Nebensätze ineinander verschachtelt. Details aus der einen Perspektive finden sich im nächsten Kapitel aus anderer Sicht wieder, ohne dass diese Redundanz als Wiederholung daherkäme. So gelingt es Melchor ein Mosaik entstehen und lebendig werden zu lassen, das komplexer auf knapp 230 Seiten nicht sein könnte.

Alle vorgestellten Personen sind unglaublich lebendig. Niemand hier ist nur gut oder tut nur Schlechtes. Sie sind Opfer der Umstände, der Armut, der Gewalt und tragen all das zugleich weiter und halten diesen Kreislauf damit am Leben. Männer saufen, prügeln sich, missbrauchen Frauen, oder auch schwule Männer, sind zugleich gefangen in ihrer Hoffnungslosigkeit, die keine Vorstellung eines anderen oder besseren Lebens zulässt – also schlagen, schimpfen sie weiter. Die gleiche Ausweglosigkeit beschreibt das Leben der Frauen, die diese Männer, die Zu- und Umstände ertragen müssen und sich kaum anders zu helfen wissen, als eben auch Gewalt zu nutzen, in jedweder Form. Hier gibt es einfach keinen Weg heraus, für niemanden.

Weil es zu einfach wäre, nur die Armut als den Grund schlechthin zu kennzeichnen, die den Menschen keine andere Wahl ließe als all dies als unveränderlich hinzunehmen, ist dieser Roman eben auch und gerade ein Text über Gewalt an Frauen. Natürlich bestimmt die Armut das Leben aller in diesem Dorf. Natürlich sorgen diese Umstände dafür, dass sich Gewalt und genau diese Geschlechterverhältnisse immer wieder reproduzieren. Frauen werden aber eben andererseits auch derart in angreifbareren, prekäreren Zuständen festgehalten, dass ich nicht glauben kann, allen dort ginge es besser, wenn nur die Armut nicht mehr wäre. Im Gegenteil, Frauen wären immer noch in einer grundsätzlich gefährdeten Lage, verletzlich gehalten. Oder anders formuliert: so strukturell bedingt die Armut und die Gewalttätigkeit aller ist, genauso strukturell ist Gewalt gegen Schwächere oder schwächer Gemachte – hier vor allem die Frauen. Nix mit Nebenwiderspruch, wenn ihr versteht, was ich meine.

Kurz und gut: Puh, dieser Roman ist ein sprachlicher und erzählerischer Orkan, aktuell und unbedingt politisch. Lesen!!!11!

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