Sonntag, 26. Juli 2020

Neal Stephenson: Amalthea




(Übersetzung: Juliane Gräbener-Müller/ Nikolaus Stingl)

„Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund. Er war im Zunehmen, zum Vollmond fehlte nur ein Tag. Die Zeit war 05:03:12 UTC. Später würde man sie als A+0.0.0 oder schlicht Null bezeichnen.“ (Seite 9)

Die Explosion hinterlässt ein Trümmerfeld, von dem ausgehend ein harter Regen die Erde unbewohnbar machen und die Menschheit auslöschen wird. Es bleiben knapp zwei Jahre, um die internationale Raumstation auszubauen, um so viel von der Menschheit wie möglich zu bewahren.

Im ersten Teil schildert Stephenson das Leben auf der Raumstation, dass die bisherige Besatzung aus ihrem beschaulichen Umrunden der Erde herausreißt. Nachdem die Katastrophe eingetreten war, haben die Regierungen der Welt die Menschen informiert und sich für die weiteren Anstrengungen zusammengeschlossen. Nach einer Phase des Pläneschmiedens kommen also nahezu im Stundentakt Material und Menschen auf die Station, um sie immer weiter auszubauen und zu erweitern. Zugleich wird ein weltweiter Auswahlprozess in Gang gesetzt, der allen Ländern und Kulturen erlauben soll, jugendliche Vertreter*innen zur Arche zu entsenden. Beim Blick über die Schulter der Hauptfiguren wird alles technisch detailliert und plausibel dargestellt.

Während im ersten Teil die technische Seite deutlich im Vordergrund steht, Techniker*innen auch irgendwie das Sagen haben und Entscheidungen hauptsächlich von technisch-naturwissenschaftlichen Kriterien geprägt scheinen, fängt im Mittelteil des Romans dann Politik an, eine Rolle zu spielen. Die Welt, wie wir sie kennen, geht im Feuer unter, mit dem Reste des Mondes die Oberfläche verheert. Hier wird sehr lange kein Leben möglich sein. Und die Überlebenden auf der Arche, immerhin etwas über tausend Menschen, schauen dabei zu. Entgegen allen Absprachen trifft im letzten Moment die nunmehr ehemalige amerikanische Präsidentin ein. Die bisherige Hierarchie steht auf einmal in Frage. Politik hält Einzug.

Eine Raumstation funktioniert, das führt Stephenson eindringlich vor, nach rationalen Kriterien und Abwägungen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Analogie zu Schiffen auf einem Ozean kommt ja nicht von ungefähr. Aber kann das auch so gelten, wenn die Raumstation nicht nur ein Außenposten der Menschheit ist, sondern alles, was von ihr blieb? Wer bestimmt jetzt aufgrund welcher Kriterien, wie es weitergeht? Immerhin hängt davon nun wirklich das Bestehen der gesamten Menschheit ab.

Weil wir komische Wesen sind, muss es schon folgerichtig zu einer Spaltung kommen. Die einen setzen auf ein schwarmbasiertes Überleben, während die anderen alles um das Hauptschiff und dessen Schutzschild zusammenziehen. Letztere wollen Zuflucht auf einem der Trümmerstücke des alten Mondes finden. Der Weg dorthin ist weit, entbehrungsreich und kostet viele, viele Leben. Vom Schwarm auf seinem alternativen Weg bleibt auch nicht viel übrig. So bilden schließlich acht Frauen und zahlreiches genetisches Material die Wiege der weiteren Menschheit. Sieben von ihnen können noch Kinder zur gebären.

Wenn denn schon alles so sehr auf des Messers Schneide steht und zugleich die Möglichkeit da ist, alle von jetzt an Nachgeborenen genetisch vorzuprägen – wie würdest du entscheiden? Das Ergebnis der Debatte der acht Frauen muss ich hier ja nicht vorwegnehmen. 😊

Offenbar führte es aber zum Überleben der Menschheit. Denn im dritten Teil lernen wir die Zivilisation 5.000 Jahre später kennen. Vom Trümmerstück des alten Mondes griff die wieder aufblühende Menschheit weiter aus, eroberte sich andere Mondbrocken und baute Habitate im Raum – die alte Erde immer vor Augen. Auch wenn in all der Zeit das Bewusstsein geprägt wurde vom Leben im All verloren die Menschen das Ziel Erde nicht aus den Augen. Die Entscheidungen der Urmütter der neuen Menschheit brachten neue, nennen wir sie mal Fraktionen hervor.

Nachdem wissenschaftliche Kenntnisse so weit gediehen sind, die Erde mithilfe des geretteten Erbgutes wiederzubeleben und zu bepflanzen finden sich die Fraktionen in einem Wettlauf zurück zur Erde wieder. Die ist aber nun eine fremde Welt, fremdartig für die Menschen aus dem All. Würde die Menschheit eine bessere geworden sein als die, die wir heute kennen? Ermöglichen 5.000 entbehrungsreiche Jahre einen wirklich neuen Entwicklungspfad für die Menschheit, wenn sie die Ursprungswelt wieder zu kolonisieren versucht? Und wie würden die Menschen aus dem All reagieren, wenn sie feststellten, dass es auf der Erde noch Leben gibt, dass ganz unabhängig von ihnen überlebt hätte?

Stephenson macht wie immer keine halben Sachen und schreibt keine Romane mehr ohne epische Ausmaße. Dabei schafft er es, mit einer eigentlich fast schon eher sachlichen Sprache einen für mich unheimlichen Lesesog zu erzeugen. Weit über ein Jahr hab ich den Roman auf meinem Lesestapel liegen gelassen, weil ich mich so darauf gefreut habe. Und wie zuletzt immer bei Stephenson konnte ich das Buch eine knappe Woche lang kaum aus der Hand legen. Dieser Autor macht kein großes Gewese und erzählt einfach, präzise und ohne Schnörkel – aber trotzdem nie banal. Er verhandelt nichts weniger als die großen Menschheitsthemen und wirft seine Menschen Welten, die ihnen alles abverlangen. Großes Kino eben, in seiner besten Ausprägung. Wann wird Stephenson eigentlich endlich auch verfilmt? ^^

Kurz und gut: Über die Jahre bin ich eingefleischter Stephenson-Fan geworden. Jeder seiner Romane ist ein Lesefest für mich. Darum gibt’s nur eines: Lesen!!!

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2 Kommentare:

  1. Hab ich mich auch schon oft gefragt - aber nicht allzu viele Menschen honorieren komplexes Schreiben und ich denke auch, dass viel verloren gehen würde von seiner Arbeit. Einerseits um einen Blockbuster zu bauen und andererseits um es massenkompatibel zu machen.

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  2. Ach, wenn sich Leute finden, die die Story auf das andere Medium hin bearbeiten können - also eine echte Adaption im anderen Medium, dann kann ich mir das schon gut vorstellen. Hat ja auch bei anderen Buchvorlagen schon geklappt. Ok, wenn der Hardcore-Fan erwartet, dass jedes Detail genau so umgesetzt werden muss, wie er/sie sich das gedacht hat, dann wäre scheitern vorprogrammiert. Jenseits davon - machbar. ;)

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