Donnerstag, 17. September 2020

Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte


(Übersetzung: Sigrid Ruschmeier)

 

„Sehr wenig weiß man, doch viel wurde geschrieben über die wahre Natur der Dschinn, jener Wesen aus rauchlosem Feuer. Sind sie gut oder böse, teuflisch oder gütig? Diese Fragen werden heiß diskutiert.“ (Seite 13)

 

Viel an festem Boden gibt es nicht in dieser so märchenhaften wie dystopischen Welt, die Rushdie in diesem abgedrehten wie auch hellseherischen Roman entwirft. Hat man auch nur die Schlagzeilen seit 2015 im Kopf, dem Jahr, in dem der Roman erschien, kann einem schier Angst und bange werden, wie sehr Literatur am Puls der Zeit und ihrer Zeit zugleich voraus sein kann. Gegen die Angst hilft, zum Beispiel: Salman Rushdie lesen.

 

In allzu naher Zukunft, so berichtet eine gesichts- und namenlose Stimme aus noch viel weiterer Zukunft, zieht ein Sturm um die Welt, der eine Zeit der „Seltsamkeiten“ einläutet. Naturkatastrophen verheeren Städte, Land wird überflutet, Brände brechen aus. Ein Kind wird geboren, dass Korruption bei Menschen erkennen kann und die Korrupten mit Mahlen im Gesicht kennzeichnet; ein Gärtner findet sich über dem Boden schwebend wieder; einem erfolglosen Comiczeichner erscheint seine eigene Comicfigur als Monster – um nur einige Beispiele zu nennen.

 

Ausgelöst wurde all dies, weil die Tore zwischen der Welt der Dschinns und unserer sich wieder öffneten. Ein Streit zwischen hellen und dunklen Dschinns führt zum Krieg, den sie auf der Erde austragen. Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte lang kämpfen helle und dunkle Dschinns in der Welt der Menschen gegeneinander und bringen die Menschheit nicht nur an den Rand der Katastrophe sondern mitten hinein.

 

Aufgestachelt werden die Dschinns ausgerechnet von zwei bereits lange toten Philosophen aus dem Mittelalter. Der eine, ein religiöser Fanatiker, der die Menschen durch Angst und Gewalt zum Glauben führen will – der andere ein Freigeist, Humanist und Aufklärer lange bevor diese Begriffe in Mode kamen. Der eine stachelt die dunklen Dschinns auf, der andere ist quasi der Urvater all der Menschen, in denen märchenhafte Fähigkeiten stecken, die den hellen Dschinns verwandt sind.

 

Richtige Hauptfiguren gibt es eigentlich nicht, auch wenn der Text immer wieder zu einigen Figuren zurückkehrt. Das ermöglicht das Wechseln zwischen Perspektiven und sogar Welten, nämlich der der Dschinns und der der Menschen. Außerdem unterstreicht die Methode, dass es hier um allen Menschen innewohnende Anlagen geht, nicht um Verfehlungen oder Heldentaten einzelner.

 

Überhaupt schafft die Einführung der beiden toten Philosophen, die buchstäblich aus dem Grabe sprechen, die Verknüpfung der übernatürlichen Welt der Dschinns mit unserer. Rushdie lässt die Dschinns ihren unsinngen Krieg anzetteln, meint aber uns Menschen. Für all das Schlechte, zum dem sich Menschen hier von den Dschinn verführen lassen und zu all dem Guten, dass die Gegenseite in den Menschen hervorbringt – für all das brauchen wir im Hier und Heute offenbar keine Rauchwesen. Es steckt in uns.

 

Dieser Dreh Rushdies verweist uns einmal mehr darauf, dass wir es sind, die unser eigenes Schicksal wie das der Erde in unseren Händen halten. Es ist an uns, uns zu entscheiden. Für die helle oder die dunkle Seite.

 

Wie es sich für einen Roman von Salman Rushdie gehört, packt er all das in eine herrlich und rasant fabulierte Geschichte, die vor Magie und Fantastischem nicht zurückschreckt. Er beweist einmal mehr, dass sich auch auf diese Art aktuelle Geschichten erzählen lassen, die uns im Hier und Jetzt betreffen.

 

An einigen Stellen empfand ich Bilder, die Rushdie verwendet, fast schon zu sehr mit dem Holzhammer präsentiert. Andererseits kriegt er mich, wie ich auch feststellen musste, dann doch immer wieder mit seinem Erzählrausch.

 

Kurz und gut: Ach, der Salman Rushdie – wie sollte ich den nicht empfehlen können? Lesen! ;)

 

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