Sonntag, 29. November 2020

John Burnside: Glister



(Übersetzung: Bernhard Robben) 

„Wo ich jetzt bin, kann ich noch die Möwen hören. Alles andere verklingt, wie ein Traum gerade dann verklingt, wenn man aufwacht und sich an ihn erinnern will, nur die Möwen sind noch da, wild und heiser krächzend wie immer.“ (Seite 7)

 

Ich will ja gar nicht mystifzieren, wie ich zu Büchern finde oder sie zu mir. Im Allgemeinen führen Bücher und Autor:innen schlicht zu noch mehr Büchern und Autor:innen. Ein bestehendes und über Jahre hinweg gepflegtes Netz wird dichter und dichter gewebt und Masche um Masche erweitert. Das entstehende Muster ist nicht zwingend vorhersehbar, gibt bei der Suche nach neuem Lesestoff aber einen gewissen Halt und bietet Orientierung.

 

John Burnsides „Glister“ konnte ich gar nicht anders finden als durch einen reinen Zufall. Das widerspricht dem eben Behaupteten überhaupt nicht. Die Möglichkeit des Zufalls, so selten er auch eintrifft, sorgt für das Glitzern im Gewebe. Das Buch also hat mich gewählt. So muss es gewesen sein. Denn ich schaue in der besten aller Buchhandlungen wirklich selten nach den antiquarischen Angeboten. Möglicherweise war es auch K, die beste aller Buchhändlerinnen, die mir das Buch in die Hand drückte. Ganz objektiv kann es aber nicht anders gewesen sein, als das dieses Buch mich wählte.

 

Der Ort der Story ist Trostlosigkeit pur. Ein kleines Städtchen an der Küste hatte eine Zeitlang Glück. Eine große Chemiefabrik wurde gebaut, Jobs und bescheidener Wohlstand hielten Einzug. Die Fabrik ist bereits schon wieder lange Geschichte. Zurück blieben rostige Ruinen, verseuchte Böden und Wälder, Geschichten von merkwürdig deformierten Tieren im Meer und an Land und eine katatonisch erstarrte Stadt. Die Bewohner:innen sind entweder krank von den Nachwirkungen der segensreichen Chemiefabrik oder krank von den Krankheiten der anderen. Niemand kann hier leben wollen. Wer hier lange genug lebt, hat jede Fantasie eingebüßt, die ein Leben woanders auch nur denkbar macht. Ist es da ein Wunder, dass Jungs im Teenageralter sich davonstehlen, auf Nimmerwiedersehen?

 

Mit dieser Begründung können sich die Bewohner:innen, die Eltern ganz wunderbar zufrieden geben. Beim ersten Jungen war es plausibel. Warum sollte es das bei den anderen, die ihm über die Jahre folgten nicht auch sein? Der Polizist des Städtchens hat schließlich ermittelt und genau das bestätigt. Dass er etwas anderes gesehen hat und an seinem Schweigen zu ersticken droht – nun, da waren alle schon wieder mit den eigenen Sorgen zu beschäftigt, um das zu bemerken.

 

Leonard ist der Lichtblick in der Geschichte und zugleich ihr Erzähler. Der Fünfzehnjährige ist dabei nicht mal außergewöhnlich. Abgesehen davon, dass er nicht hinnehmen kann und will, dass auch sein bester Freund einfach so auf eigene Faust verschwunden sein soll.

 

Er will eigentlich auch nur seine Ruhe, streift liebend gern über die zerfallende Industriebrache, schaut den Möwen dort zu. Fast zufällig kommt er zum Lesen, befeuert durch den richtigen Bibliothekar zur richtigen Zeit. Abgesehen davon macht er, was Teenager hier machen können, um sich doch ein wenig lebendig zu fühlen. Er atmet tief die verseuchte Freiheit, die Fabrikruine bietet und fickt seine Freundin. Romantischer wird das in der Story auch nicht.

 

Spätestens als er sich recht widerwillig einer jugendlichen Gang anschließt, die sich damit abreagiert, dass sie sich an allem austobt, was schwächer erscheint, ist er zu einer treibenden Kraft einer Entwicklung geworden, die mit den verschwundenen Jungen schon lange im Gange ist. Keine Sorge, bei dieser nebulösen Beschreibung belasse ich es auch. ;)

„Glister“ ist eines der Bücher, das mich von der ersten Seite an in seinen Bann schlug, ohne dass ich recht sagen könnte, was es ist. Irgendwo las ich die Empfehlung, man solle dieses Buch nur bei Tageslicht lesen. Und ja, es ist ein ganz fein gesponnener und gar nicht mal zurückhaltend formulierter Horror, der hier aus den Seiten strömt. Stephen King zum Beispiel konstruiert ja gern erst eine uns ganz wunderbar vertraute Realität, die er dann nach und nach kippen lässt. John Burnside wiederum wirft uns einfach direkt in den Wahnsinn.

 

Dass Burnside sich als Dichter bereits einen Namen gemacht hat, las ich erst im Nachhinein. Was seine wirklich grandiose Sprache in dem Roman angeht, war das fast erahnbar. Leonard als Ich-Erzähler spricht natürlich kein Stück wie ein Teenager. Und trotzdem klingt er so echt wie es nur geht, insbesondere wenn es um sein so gar nicht romantisches Verhältnis zu Mädchen geht oder auch als er, um einen Foltermord zu verhindern, selbst zum Mörder wird.

 

Kurz und gut: Alter, krasser und krass guter Stoff! Lest Burnside!

 

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