Samstag, 28. November 2020

Zoë Beck: Paradise City


„Die Luft ist kühler als in der Stadt, es sind nur dreiunddreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad. Es riecht nach Wald. Sie hört einen Specht hämmern, einen Kuckuck rufen. Sie steht noch einen Moment einfach da und lauscht, hört andere Vögel, versucht, sie einzuordnen. Ihr Gesang füllt die Stille. Liina weiß, dass sie der einzige Mensch weit und breit ist.“ (Seite 7)

 

Der Deal ist ganz einfach. Du willst die beste Gesundheitsfürsorge für dich? Ärzte, die sofort wissen, was du hast, deine Vorgeschichte kennen? Medikamente, die geliefert werden, wenn du sie brauchst? Dafür braucht das System nur deine Daten – in Echtzeit natürlich. Es ist nur ein kleiner Chip, den du im Körper trägst. Dazu gibt es noch ein praktisches Smart Case, dass du einfach immer dabei hast. Geht es dir schlecht, ist sofort jemand da, der sich um dich kümmert. Du brauchst dringend Hilfe vor Ort? Kein Problem, das System weiß ja, wo du bist, und schickt jemanden vorbei. Noch nie war es so einfach, gesund zu bleiben.

 

Ok, ein wenig mitmachen musst du natürlich schon. Du musst auch gesund bleiben wollen. Und wenn du es willst, dann willst du es auch für deine Lieben um dich. Sie sollen sich auch um sich kümmern. Überhaupt ist gar nicht einzusehen, dass jemand quasi vorsätzlich ungesund lebt – und Kosten verursacht. Zum Glück sorgt das System dafür, dass alle den richtigen Job haben und sich nur an Orten aufhalten, wo sie auch hingehören. Es geht schließlich um unser aller Gesundheit.

 

Achja, es geht übrigens nicht um Corona. Auch wenn dieser Thriller im Sommer dieses in jeder Hinsicht besonderen Jahres erschienen ist. Und bevor Missverständnisse aufkommen: Ja, es geht um eine Gesundheitsdiktatur vor dem Hintergrund einer zuvor grassierenden, verheerenden Seuche. „Querdenker:innen“ könnten jetzt geneigt sein, ihre abstrusen Verschwörungsvorstellungen in einem dystopischen Thriller beschrieben zu sehen. Aber weit gefehlt.

 

Beginnen wir mit dem Setting. Der Klimawandel ist echt und er ist da. Der Meeresspiegel ist angestiegen, die Küste verläuft jetzt deutlich anderswo. Die Menschen haben sich in eine Region im Landesinneren zurückgezogen, wo sie jetzt geballt in einer Megacity leben – Metropolregion Frankfurt am Main. Das Land jenseits der Megastadt liefert Rohstoffe und wird darüber hinaus immer mehr zum vergessenen Land. Berlin ist nur noch ein touristisches Ausflugsziel und ringsum in Brandenburg heulen die Wölfe. Da schluckt schon manche:r Querdenker:in.

 

Implantierte Chips, Überwachung und Steuerung der Gesellschaft anstelle von gesellschaftlicher Solidarität. Was zunächst klingt wie die feuchten Träume der Bill-Gates-ich-habs-schon-immer-gewußt-Apologeten ist im Grunde die logische und autoritäre Fortsetzung ihres Egoismus in einem Staat, der diese Haltung einpackt und wendet in eine Totalüberwachung. Dafür gibt’s in den Staatsmedien auch das, was uns all die alternativen Weltverdreher als Wahrheit verkaufen wollen: gefühlte Fakten statt fundierter Wissenssuche, nix mehr mit faktenbasierter Debatte. Dass das Personal der Story auch noch maximal divers zusammengesetzt ist, in fast jeder Hinsicht, ist da nur noch das Topping.

 

Natürlich gibt es in dieser sterilen Welt noch Menschen, die individualistisch genug veranlagt sind, um anzuecken. Nicht, weil ihr Ego zu groß wäre, sondern weil sie nicht glauben können, dass es da nichts mehr jenseits der hübsch modellierten Welt um sie herumgäbe. Nach und nach, und auch in geschickt gesetzten Rückblenden, entdeckt insbesondere die Hauptfigur Liina immer mehr blinde Flecken und stößt auf Fragen. Wenn nicht alle Menschen in der Megacity leben, wer lebt dann eigentlich jenseits davon? Warum verschwinden Menschen immer wieder? Was passiert mit denen, die sich nicht anpassen?

 

Ihr merkt schon, ich drücke mich darum, allzu viel von der Story zu verraten. ;)

 

Mich hat beeindruckt, wie wenig man eigentlich von heute schon vorhandenen und potentiellen Technologien weiterdenken muss, welche wie salonfähig gewordenen autoritären Gelüste konsequent weitergesponnen eine solche Welt, ein solches Deutschland ergeben, wie wir es in dieser Story vorfinden.

 

Brandaktuell und dringlich ist die Debatte, die darunter liegt. In welcher Welt wollen wir leben? Wollen wir uns gesellschaftliche Solidarität leisten, die ein unentwegtes demokratisches Mitmachen benötigt? Wollen wir das technologische Entwicklungen gesellschaftliches Miteinander ersetzen?

 

Klar, so ein Thriller lässt sich auch gut einfach als Unterhaltung an langen Herbstabenden lesen. Der Vorteil dieses Thrillers ist, dass er nicht nur gut erzählt, die Story fein gesponnen ist, sondern zugleich ein Nachdenken über uns im Hier und Heute angestoßen wird.

 

Kurz und gut: Ich bin ja eh ein Fanboy. Aber glaubt mir, ganz objektiv betrachtet: Lest Zoë Beck!

 

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