Sonntag, 21. Februar 2021

Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Band 3 der Neapolitanischen Saga


(Übersetzung: Karin Krieger)

„Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005.“ (Seite 19)

Jaja, ich hänge mal wieder drei Sommer hinterher. Ich weiß doch. Aber mal ehrlich, ich kann nicht der Einzige sein, der Bücher, auf die er sich sehr freut, gern auch mal sehr lange liegen lässt, bevor sie endlich doch gelesen werden?! 😉

Zwei Mädchen wachsen in den Fünfzigern in einem Arme-Leute-Viertel in Neapel auf: Lila und Elena, die Erzählerin. Sie erleben Armut, Gewalt in der Familie, wenige Kommunisten und viele Mafiosi und Faschisten in der Nachbarschaft – und ihr Leben scheint vorgezeichnet. Obwohl beide das Zeug dazu hätten, sich ihren Weg durch Bildung weit über das Viertel hinaus zu erobern, gelingt das nur Elena. Sie ist auch diejenige, die uns ihre Geschichte, die Geschichte Lilas und die ihrer Freundschaft zueinander aus heutiger Perspektive erzählt.

Während Lila die Schule verließ, heiratete, der Ehe wieder entkam, alleinerziehende Mutter wurde und inzwischen in einer trostlosen Lebensmittelfabrik in Neapel schuftet, gelang Elena der Aufstieg über Bildung. Sie machte Abitur und studierte, lernte eine völlig neue Welt kennen, mit nicht weniger ungeschriebenen Regeln und Gesetzen. Der nunmehr dritte Band führt die Geschichte in die Siebziger eines Italiens in politischem Aufruhr.

Elena schreibt einen biografisch geprägten Roman, der ihr zumindest zeitweise einigen Erfolg einbringt. Sie lernt vor vielen Menschen zu sprechen und schafft es endlich, auch dieses Gefühl, immer nur etwas vorzuspielen und nicht zu genügen, wenigstens eine Zeit lang abzustreifen. Und schließlich steht auch ihre Hochzeit mit dem Sohn einer sehr angesehenen Akademikerfamilie an. Das klingt doch alles ganz wunderbar, aber weit gefehlt. In Neapel, in ihrer Familie und ihrem Viertel ist der Blick auf die, die es geschafft hat, ein durchaus zwiespältiger.

Die Leute, auch ihre Familie, scheinen nur den materiellen Aufstieg zu sehen, sehen zu wollen oder vielleicht auch sehen zu können. All die Unsicherheiten, Fragen zu ihrer eigenen Rolle als selbständig denkende und handelnde Frau – nein, die bleiben unsichtbar. Ohne es jeweils immer aussprechen zu müssen, sind diese Bande und Zwänge, die an ihr zerren und in ihr selbst nicht weniger wirken, immer präsent. Die Frau von, jetzt fehlen nur noch die Kinder – als wäre das all ihr Trachten und Träumen. Als wäre nichts anderes und nicht mehr denkbar.

Wie frei muss dagegen Lila sein? Mit ihrem Sohn lebt sie mit einem alten Jugendfreund zusammen, ohne ein Paar zu sein. Sie plagt sich mit einem Knochenjob, kommt kaum über die Runden. Aber scheinbar hat alle Welt es aufgegeben, von Lila etwas anderes zu erwarten, als dass sie ihren eigenen Weg geht. Niemand käme auf die Idee, ihr zu sagen, wie sie zu leben hat.

Diese beiden Leben verwoben zu erzählen und nebeneinander, gegeneinander zu stellen, macht eine große Stärke auch dieses dritten Bandes aus. Sowohl Lila als auch Elena haben zu viel erlebt und sind zu schlau, um sich keine Gedanken um sich selbst zu machen. Beide ringen letztlich darum, den starren Regeln der Nachkriegswelt zu entfliehen, die klar vorschreiben, wie eine Frau zu sein hat, was sie darf und was nicht.

Aus heutiger Sicht mag vieles davon banal klingen. Aber ehrlich, hört man mal in klassische Familien, auch in die eigene, gibt es da genügend, was so viel anders nicht ist. Wer ist für Kinder und das Essen zuständig? Wer bringt das (meiste) Geld nach Hause? Er gesteht ihr gönnerhaft zu, zuhause „Frau General“ zu sein – garniert mit einem Schmunzeln, weil es so lustig ist. War da schon etwas Bekanntes dabei?

Ich lege noch eines drauf, was sich in den ersten beiden Bänden schon aufbaute und nun weiter intensiviert. Das ist die Rivalität, der Blick der Frauen untereinander aufeinander. Im Viertel stach das schon markant hervor, wie sehr auch die Frauen darauf achten, dass bloß keine von ihnen aus der Reihe tanzt. Wehe der, die nicht dem Ideal nacheiferte, das alle so hochhielten. Da mussten die Männer kaum selbst eingreifen. Die verzweifelte Kraft, mit der diese Auseinandersetzungen geführt wurden – und vermutlich oft genug noch werden – ist erschütternd. Denn sie zeigt, wie sehr patriarchale Strukturen, Wertvorstellungen etc. auch die Frauen zurichten.

Das Elena Ferrante so unverschämt gut und leicht erzählen kann, macht all das noch erschütternder und bleibt doch eine unglaublich mitreißende Geschichte. Ich habe keine drei Seiten gebraucht, um selbst nach über einem Jahr Pause sofort wieder die brennende Sonne über Neapel zu spüren.

Kurz und gut: Sie hatten einfach alle recht. Lest Elena Ferrante!

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