Sonntag, 19. Dezember 2021

Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Band 4 der Neapolitanischen Saga


(Übersetzung: Karin Krieger)

„Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich 1979, nach Neapel zurückzog, vermied ich es , wieder feste Beziehungen zu Lila aufzubauen.“ (Seite 17)

Vier Bände lang bin ich jetzt hin und her geschwankt zwischen einmal komplett Durchsuchten und dem erstmal Sacken lassen der einzelnen Teile. Vollkommen erwartbar war natürlich, dass es dann auf einmal vorbei ist. Fast ein ganzes Leben auf mehr als 2.000 Seiten (ohne nachschauen 😊). Puh! So viel kann ich schon mal verraten, ich hab das Schmökern bis zum Ende zutiefst genossen.

In Band 4 kommt die Geschichte von Elena, die immer auch die Geschichte von Lila und zahlreichen anderen Figuren ist, in den Achtzigern an. Elena hat beruflich und privat mehr als einmal Hochzeiten und Niederlagen erfahren. Sie genießt den Erfolg, wenn er sich einstellt, in vollen Zügen, ist aber weiterhin voller Selbstzweifel, wenn er ausbleibt. Wie sehr Persönliches und Öffentliches sich vermischen zeigt sich, wenn Elena als erfolgreiche Autorin viel reist, öffentlich auftritt und entsprechend wenig Zeit für ihre Kinder hat. Genau das verpasst ihrem Hochgefühl dann auch sofort einen Dämpfer, wenn es eben nicht läuft.

Dass Elena nach ihrer Entscheidung für den Liebhaber und gegen den Ehemann gleich auch noch all die erwartbaren Fallstricke zu meistern hat, inklusive des Urteils der Menschen um sich herum, macht es nicht besser. Aber auch hier gelingt es der Autorin einmal mehr in bester Art und Weise, aus der Geschichte eben kein Rührstück zu machen. Elena ist an keiner Stelle nur die egoistische Frau, die nur an sich und ihre Kariere denkt, sie ist aber auch nicht einfach nur die arme hilflose Frau ohne Mann.

Elena Ferrante zeichnet eine Realität von Frauen in einer gnadenlos patriarchalen Gesellschaft, die so auch für andere Zeiten und andere Orte Gültigkeit beanspruchen kann.

Mehr als einmal musste ich an Geschichten denken, die mir meine eigene Mutter erzählte, aus den ersten gut zehn Jahren meines Lebens, in denen sie mich als Alleinerziehende aufzog. Was wurde im Dorf, in dem wir damals lebten, nicht geschaut und geunkt, ob die junge Frau das denn auch richtig macht. Geht sie arbeiten, was das richtig. Arbeitete sie in Schichten war das natürlich gefährlich nah an der Vernachlässigung ihres Sohnes. Lernte sie Männer kennen, wurde sofort gegafft und bewertet. Dass sie Typen, bei denen sie feststellen musste, dass sie Interesse an ihr aber nicht an ihrem Sohn hatten, sofort abschoss, hat selbstverständlich kaum jemand wahrgenommen.

Bei Ferrante geht es aber natürlich nicht nur um alleinerziehende Frauen, sondern ums Ganze. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle vier Bände, was Menschen einander so antun. Männer den Frauen, Frauen aber auch anderen Frauen, Erwachsene den Kindern – und mit dem Blick aus dem Jahr 2021 und mit all den feministischen und identitätspolitischen Debatten im Hinterkopf bleibt nur das verwunderte Augenreiben – und zwar nicht, weil das alles Geschichte wäre. Beileibe nicht.

Dass die Hauptfigur Elena sich als feministische Autorin einen Namen machen kann, bietet natürlich die kongeniale Möglichkeit, ihr Leben auch etwas analytischer zu schildern. Feminismus und auch die Klassenfrage werden so ganz praktisch greifbar.

Elena Ferrantes Verdienst ist es für mich, einen zutiefst feministischen und humanistischen Blick auf die Gesellschaft aufgemacht zu haben, ganz ohne Moralkeule und obendrein einfach gut erzählt. Wer Debatten wie #metoo und andere heute für abgehoben akademisch hält, dem sei die Neapolitanische Saga wirklich dringend ans Herz gelegt. Und allen, die gute Literatur mögen, die etwas zum Blick auf uns beitragen kann, ohnehin.

Ein bisschen gespannt bin ich, nebenher gesagt, auch auf die Verfilmung als Serie, die bei diesen Bänden tatsächlich nahe liegt. Vermutlich ist die Chance darauf, dass sie gelungen ist, ebenso groß wie das Gegenteil. 😉

Kurz und gut: Meiner Mutter schenke ich normalerweise keine Bücher. Den ersten Band habe ich ihr aber schon zukommen lassen und hoffe sehr, dass sie Lust auf die ganze Reihe bekommt. Lesen!

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