Sonntag, 5. Dezember 2021

Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern


„Durch das Bullauge des Flugzeugs sind bereits die ersten Felder zu sehen, ihnen folgt ein Häusermeer und verschwindet wieder, dann schwenkt die Tragfläche nach oben und durch das Fenster ist nur noch das Himmelblau zu sehen.“ (Seite 11)

Hammoudi sitzt im Flieger. Für eine bürokratische Formalität unterbricht er sein Medizinstudium in Paris und reist nach Syrien, in sein Heimatland. Bevor er in die östlich gelegene Stadt weiterreist, in der seine Familie lebt und wo er sein Visum verlängern lassen will, genießt er noch ein paar Tage Damaskus.

Hier lebt auch Amal, eine junge Schauspielerin und Studentin aus gutem Hause, wie man so schön sagt. Sie ist erfolgreich, sieht gut aus und genießt ein unbeschwertes Leben in der quirligen Großstadt.

Die Ankunft bei seiner Familie in Deir az-Zour am Euphrat gleicht einer Zeitreise. Das Leben, dem Hammoudi hier entfloh, hat so gar nichts mit seinem Leben in Paris zu tun. So schön es irgendwie für ihn ist, seine Eltern, die Geschwister, Verwandte und Freunde wiederzusehen – hier gehört er schon lange nicht mehr her. Doch die einfache Formalität, deretwegen er gekommen ist, zieht sich immer länger hin.

Amal spielt eine Hauptrolle in einer Serie. Doch in ihr Leben zwischen Schauspielstudium und beruflichem Erfolg mischt sich auch Unzufriedenheit mit den Verhältnissen. Gerade weil sie so frei und selbstbestimmt leben kann, fallen ihr immer wieder Grenzen auf, die dem Leben hier durch das Regime von Assad gezogen sind. Die ersten Funken von dem, was der Westen den Arabischen Frühling nennen wird, sorgen für eine unbenannte Unruhe bei ihr. Fast eher aus Neugierde geht sie zu Demonstrationen gegen das Regime und begeistert sich an dem Gefühl, Teil einer zunehmend erstarkenden Bewegung zu sein.

Hammoudi muss einsehen, dass er seine Angelegenheiten so schnell nicht wird lösen können. Ihm wird klar, dass er bis auf Weiteres Syrien nicht mehr wird verlassen können. Also muss er sich entscheiden, sich hier vor Ort um eine Arbeit zu bemühen. Trotz seiner Ausbildung in Frankreich ist das leichter gesagt als getan. In Assads Syrien zählt nicht unbedingt die formale Qualifikation. Wenigstens so lange nicht, wie der eigenen Leistung nicht entsprechende Gelder für korrupte Beamte beigelegt sind, die am Ende bewilligen oder verweigern können.

Erstmalig erlebt Amal, wie sich die Konfrontation mit dem Regime ganz persönlich anfühlt. Wie unbarmherzig Geheimpolizisten auftreten, wie skrupellos sie Gewalt einsetzen. So unvermittelt sie diese Erkenntnis trifft, kann sie sich doch zunächst darauf verlassen, dass ihr Vater mit seinen Beziehungen dafür sorgen kann, dass sie zu ihrem normalen Leben zurückkehren kann. Doch es tun sich Risse auf, weil ihr immer bewusster wird, wie brüchig die Fassade ist, die hier Normalität vortäuscht.

Olga Grjasnowa stellt uns zwei junge Menschen vor, deren Leben sich gar nicht so sehr von unserem unterscheidet, die wir hier mitten in Europa leben. Sie sind qua Ausbildung und durch ihre Familien eher privilegiert, sie wollen sich ihren Platz im Leben erobern. Doch beider irgendwie heile Welt bröckelt mit dem Aufkommen der Unruhen in Syrien immer mehr. Sie finden sich auf der Seite derer wieder, die gegen das Regime aufbegehren. Die brutale, harte Realität der Diktatur wird für beide immer sichtbarer, obwohl sie davor bisher so sehr behütet waren. Das Auswachsen der Proteste gegen das Regime zum Bürgerkrieg verlangt ihnen beiden Entscheidungen ab, die sie jede:r für sich beantworten müssen. Und für beide geht es recht bald nicht mehr nur um die Frage, wie ihre Zukunft aussehen wird, sondern um Leben und Tod.

Amal und Hammoudi werden gezwungen sein, Syrien zu verlassen, wenn sie überleben wollen. Doch wo immer sie landen, es wird ihnen nichts anderes übrigbleiben als weiterzuziehen – wie all die anderen, die sich wie sie selbst auf der Flucht befinden. In Grjasnowas Geschichte begegnen sich Amal und Hammoudi kurz und folgenlos in Damaskus. Sie werden sich sehr viel später vollkommen zufällig wiedersehen – in Berlin – als Geflüchtete, von deren vormaligem Leben buchstäblich nichts übriggeblieben ist.

Die große Stärke dieses Textes ist, dass die Autorin nicht auf Betroffenheit setzt. Unprätentiös und schnörkellos lässt sie uns am Leben ihrer Hauptfiguren teilhaben. Folgerichtig widmet sich der Hauptteil dieser Geschichte dem Leben von Amal und Hammoudi bevor sie letztlich doch flüchten müssen. Damit gibt sie den beiden, die wir hier nur als Geflüchtete wahrnehmen würden, ihr Leben zurück und kann unaufgeregt verdeutlichen, was und wie viel die beiden zuvor verloren haben und erleiden mussten, bevor sie letztlich als Geflüchtete in Europa stranden. Diese Geschichte sei denen ins Gesicht geschleudert, die nicht Menschen in Not, sondern nur Sozialschmarotzer und Gefahr erkennen können.

Olga Grjasnowa schafft es ganz ohne Klischee und kitschiges Drama, das mir persönlich Amal und Hammoudi so nah kommen konnten, wie es Leute, die bei PEGIDA und Co mitmarschieren nie sein werden.

Kurz und gut: Ein grandioses Buch, stark erzählt und konsequent humanistisch. Lesen!

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