Montag, 11. Mai 2020

Vladimir Sorokin: Der Schneesturm



(Übersetzung: Andreas Tretner)

„‘Verstehen Sie denn nicht, ich muss da unbedingt hin!‘, rief Doktor Garin mit zorniger Geste. ‚Patienten warten auf mich. Kranke Menschen! Dort herrscht eine Epidemie! Sagt Ihnen das Wort etwas?‘“ (Seite 5)

Na huch, ich schicke gleich mal vorweg, dass dies kein Roman über COVID-19 ist. Im russischen Original erschien er nämlich schon 2010. ;)

Doktor Garin ist Landarzt. Er hat einen Impfstoff dabei, den er mitten in der unendlichen russischen Weite in ein Dorf bringen will, in dem die Menschen an einer mysteriösen Krankheit leiden. Es ist tiefer Winter, ein Schneesturm zieht herauf und sein Pferdegespann fällt für den Rest der Strecke aus. Nach einer Weile findet er einen Kutscher, der bereit ist, ihn in das Dorf zu bringen. Also los.

Der Klappentext verspricht, die Geschichte ließe sich zunächst an, wie eine aus dem 19. Jahrhundert. Und das ist nicht zu viel versprochen. Die Typen sind irgendwie cholerisch, aber trotzdem gemütlich. Alles mutet recht karg bis ärmlich an. Es wird viel getrunken. Und auch die Dialoge klingen irgendwie typisch. Von der Schlittenfahrt durch einen Schneesturm mal ganz zu schweigen.

Natürlich schlittern Doktor Garin und der etwas einfältige Kutscher Kosmo von einem Mißgeschick ins nächste. Der Sturm nimmt zu, der Weg verwischt, sie rammen irgendwas, eine Kufe wird demoliert – und das ist erst der Anfang.

Ich verrate, glaube ich, nicht zu viel, wenn ich schreibe, dass es in dieser Geschichte natürlich nicht ums Ankommen geht. Das Dorf und diese merkwürdige Epidemie bleiben konturlos im Hintergrund und wabern eher wie ein Gerücht durch die Geschichte.

Höchst real erscheinen aber die beiden Figuren Doktor Garin und Kosmo, der Kutscher. Die dürfen sich und damit auch den Leser*innen natürlich so nahe kommen müssen, wie es so ein echt lebensgefährlicher Schneesturm eben erfodert. Euphorie, Panik und Hysterie liegen da halt dicht beisammen.

Dass es sich bei der Zeit, in der die Geschichte sich abspielt nicht die ferne Vergangenheit sondern eher die nahe Zukunft ist, dass lässt Vladimir Sorokin ganz geschickt und häppchenweise durchsickern. Das komische Pferdegespann von Kosmo hatte ich beim Lesen schon merkwürdig gefunden, hätte es aber auch hingenommen. Aber nach und nach verdichten sich die ganz unmerklichen, fast schon fantastisch anmutenden Zeichen.

Trotzdem, und das machte den Reiz beim Lesen für mich aus, bleibt alles absolut plausibel. Mit Kosmo ließe sich sagen: Huch, passiert halt und ist dann so!

Auch diese nahe Zukunft, bzw. deren Beschaffenheit schwingt eher schemenhaft in der Erzählung mit. Über das Staatswesen ist nicht viel zu erfahren, vielleicht gibt es davon auch nicht mehr so viel. Die Menschen wirken wie aus der Zeit gefallen. Und das es zwergenhafte Typen gibt wie auch häuserblockhohe wunderte mich jedenfalls auch nicht mehr.

Bei all dem verliert Sorokin den Tonfall nicht, der eben eingangs die Illusion einer Geschichte aus alten Zeiten so meisterhaft ausmalte. Obwohl es einige wirklich grausige Szenen gibt und es ja auch um Leben und Tod geht, schwingt so ein schelmischer Unterton mit, den ich gar nicht genauer beschreiben könnte. Aber ich schwöre, Sorokin würde beim Vorlesen vor sich hin schmunzeln.

Kurz und gut: Mein erster Sorokin – und ich will mehr davon. Lesen!

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