Dienstag, 5. Mai 2020

Margaret Atwood: Das Herz kommt zuletzt



„Das Schlafen im Auto ist beengt. Als Dritte-Hand-Honda ist es ohnehin schon kein Palast. Wär´s ein Transporter, hätten sie mehr Platz, aber sich so einen leisten zu können, nie im Leben, nicht mal damals, als sie noch Geld zu haben glaubten. Stan sagt, sie hätten Glück, überhaupt ein Auto zu haben, und das stimmt, aber dieses Glück macht das Auto nicht größer.“ (Seite 11)

Stan und Charmaine sind ein junges Paar und leben in einem maroden Amerika nach einer Wirtschaftskrise, die das Land zerrüttet und destabilisiert zurückgelassen hat. Jobs sind Mangelware; eine Wohnung muss man sich leisten können – Stan und Charmaine können das nicht. Sie leben in ihrem Dritte-Hand-Honda.

Da kommt die Anzeige gerade recht, in der für ein scheinbar wunderbares Leben geworben wird. In der Stadt Consilience leben die Bewohner*innen einen Monat ganz normal in ihren Häusern, mit ihren Jobs. Jeden zweiten Monat wechseln sie dafür in das städtische Gefängnis. So sollen Ressourcen gespart werden, da ja immer zwei Paare abwechselnd im gleichen Haus leben. Gesellschaftlich sei es effizienter, weil die Menschen im Gefängnis ja auch arbeiten.

Stan und Charmaine überlegen nicht lange, unterschreiben und ziehen um nach Consilience.

Gut, es gibt aus der Stadt im Nirgendwo kein Rauskommen. Aber was sollten sie auch draußen wollen. Genau von dort wollten sie ja weg. Hier haben sie ein eigenes Haus, dass sie zwar teilen müssen, aber es ist hübsch eingerichtet und atmet endlich etwas Wohlstand.

Überhaupt gibt es eine Menge Verhaltensregeln. Die Leute von der Verwaltung wirken auch ein wenig wie von einer wohlsituierten Sekte. Aber wer will denn da gleich an etwas Schlimmes denken?

Als Stans und Charmaines Leben schon viel zu bequem zu werden scheint, fangen beide unabhängig voneinander an, Interesse an denen zu entwickeln, mit denen sie sich das Haus teilen – also genaugenommen jeweils nur ein einem bzw. einer der beiden anderen. 😊

Stan und Charmaine behalten das natürlich jeweils für sich. Und während sie noch glauben, in, nennen wir es mal Beziehungsverwicklungen zu stecken, verbringen sie ihre Zeit im Gefängnis plötzlich nicht mehr gleichzeitig. Unabhängig voneinander müssen sie entdecken, dass der schöne Schein in Consilience trügt und sich mit ihrer je eigenen Verstrickung auseinandersetzen. Immerhin gibt es eine Chance auf ein Wiedersehen. Das will ich hier aber gar nicht weiter verraten. 😊

Der Roman ist also mal wieder eine Dystopie aus der Feder von Margaret Atwood. Mit geht es sicher wie vielen, die nun die Romane von ihr nach und nach entdecken. Für vor allem Jüngere dürfte der „Report der Magd“, ob als Buch oder als Serie, die erste Begegnung mit Atwood gewesen sein.

Dass sie gut schreiben, erzählen kann, steht für mich außer Frage. „Das Herz kommt zuletzt“ scheint mir aber an den „Report“ bei weitem nicht heranzureichen. Es lässt sich gut lesen, die Story entwickelt ihren Sog, alles ist soweit plausibel – das alles ja. Dieser Roman wirkte auf mich aber so sehr handlungsorientiert, dass die Momente, in denen die Figuren innehalten und reflektieren können, aber etwas zu glatt durchrutschten. Einerseits macht das die Geschichte schnell, wirkt aber eben auch einen Tick zu sehr routiniert, glatt. Man kennt das von zahllosen gerade amerikanischen Vielschreiber*innen von Dan Brown bis Grisham u.a.

Atwood ist, wenigstens für meinen Geschmack, trotzdem auch hier mit ihrer Sprache sichtbar, die immer wieder das Glatte etwas durchbricht. Es sind oft umgangssprachliche, auch brachiale Wendungen, die zugleich oft ein Schmunzeln verursachen und die Figuren erden. Vielleicht macht das auch den Unterschied zu den vorgenannten Autor*innen aus.

Beim Ausleuchten der Frage, wie sich Menschen verhalten, wenn sie sich in scheinbarer Sicherheit und Zufriedenheit wähnen, um dann zu merken, dass es doch nur ein autoritäres, brutales System ist, dieser Frage geht Atwood hier nach. Eine Stärke des Romans ist, dass die Figuren sehr menschlich agieren, mit allen Fehlern, Unzulänglichkeiten, die damit verbunden sind. Übermenschliches Heldentum gibt es hier nicht. Für meinen Geschmack hätte das aber gern noch etwas mehr auserzählt werden können.

Kurz und gut: Margaret Atwood nicht zu empfehlen, geht irgendwie nicht. Nicht ihr bester Roman aber eine gute Geschichte. Kann man gut lesen!

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