Donnerstag, 20. August 2020

Madame Nielsen: Der endlose Sommer



„Der Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß. Der scheue Junge, der vielleicht ein Mädchen ist, aber nie einen Mann berühren, sich nie mit einem Mann ausziehen und Haut an Haut reiben würde, nie im Leben, wie erregend verworfen die Vorstellung auch sei. Der scheue Junge, dieser hübsche, scheue Junge mit den feinen Zügen, den großen Augen und der großen Angst, vor dem Krieg und vor Krankheiten, vor dem Körper, dem Geschlecht und dem Tod.“ (Seite 5)

 

(Übersetzung: Hannes Langendörfer)

 

Ich weiß gar nicht genau zu sagen, wann ihre Stimme das erste Mal mein Ohr erreichte, sich ins Herz vorschlängelte und darin festkrallte. In jedem Fall gab es noch Kassettendecks in Autoradios. In meiner Kassettensammlung fand sich auch eine Konzertaufnahme, die mir jemand kopiert hatte. Georgette Dee und ihr Pianist Terry Truck live.

 

Diese Kassette habe ich viele Male gehört, während ich unterwegs war – vorzugsweise nachts. Mal mit inbrünstig guter Laune, mal unendlich einsam und mit übervollem Herzen. Während ihre Stimme den Wagen mit ihrem Timbre erfüllte und die Innenluft vibrieren ließ, lachte und weinte ich und sang mit, so laut und falsch ich nur konnte.

 

Später, da war mir Georgettes Stimme schon eine innige Freundin geworden, erlebte ich sie endlich selbst auf der Bühne. Zusammen mit drei anderen Diven – im allerbesten Sinne – spielte sie das Programm „Diva gut“ im Schmidts Tivoli im Hamburger St. Pauli. Vertüllt barock war alles an diesem Abend. Auf der Bühne hingen lange, fließende Samtbahnen in dunklem Rot herunter. Ein Tisch, Stühle, das Piano mit Terry Truck an den Tasten (zumindest glaube ich, mich so zu erinnern) – und dann sie. In der einen Hand ein Glas mit ganz sicher Hochprozentigem, in der anderen das Mikro und eine Kippe zwischen die Finger geklemmt. Ihr Kleid muss aus dem gleichen Stoff gewesen sein wie der Bühnenbehang und umfloss ebenso in langen Bahnen ihren Körper.

 

Das Programm bestand aus Chansons, interpretierten wie eigenen, einem herrlichen und unendlich stilvollen Besäufnis und nicht weniger Rauchen. Dazu all die kleinen Geschichten, deren Art ich von der Kassette schon kannte, hier zugleich als Gespräch zwischen den vieren, die sich auch mit ihren Liedern abwechselten.

 

Sollte ich erklären, wovon die Texte und die Lieder handelten, könnte ich nur sagen: von allem! Und von der Liebe – in all ihren Farben und Schattierungen.

 

In den Jahren seither konnte ich viele Konzerte von Georgette Dee erleben. Zahlreichen Freunden habe ich gnadenlos Lieder in voller Lautstärke vorgespielt, die mich so tief berührten, dass ich es nur oberflächlich an diesem und jenem festmachen konnte. Nie konnte ich verstehen, wenn mit entgegnet wurde, dass sei wunderbar, aber auch nur melancholisch. Ja, aber eben immer von einer tiefen inneren Stärke getragen, die mich am Ende immer befreit auflachen ließ, war meine Antwort.

 

Ein Konzert ist mir noch in besonderer Erinnerung. Ich lebte noch in Hamburg und hatte für eine bevorstehende Geburtstags-Motto-Party einen fantastischen 20er-Jahre-Anzug bei einem Theaterverleih gefunden. Dicker, fester blauer Stoff mit weißen Streifen, ein passendes Hemd mit Stehkragen dazu, eine mafiös breite rote Krawatte, Einstecktuch sowieso, ein passender Hut – und natürlich Gamaschen und ein Gehstock. Am Nachmittag vor dem Konzert probierte ich die Ausstattung an und war so verliebt, dass ich sie bis zum Konzert nicht mehr auszog. Vorm Schmidts Tivoli – mal wieder – war ich dann umringt von einer herrlichen Mischung aus Jung und Alt, Bunt und Bieder, und in dieser federleichten Stimmung war kein Platz für komische Seitenblicke. Abgesehen davon, dass ich bei Weitem nicht der bunteste Vogel im Publikum war. Das Programm an diesem Abend war durchsetzt mit Seemannsliedern, die schon weit vor der Zugabe ein Rollen und Schunkeln, glückliche und melancholisch-hoffnungsvoll blitzende Tränen in die ??? zauberten. Dieses Gefühl, am Ende mit all diesen zu einem Ganzen verwobenen Leuten auf Tischen und Stühlen zu stehen, uns im Takt zu wiegen, inbrünstig wie der beste jemals auftretende Seemannschor mit ihr zu singen – das Bild verliere ich hoffentlich nie wieder.

 

Ich kann diese Wirkung nur so erklären und habe das schon viele, viele Male getan: In drei Stunden mit Georgette Dee auf der Bühne werden alle deine Fragen ans Universum beantwortet, jede Unsicherheit wandelt sich in Stärke.

 

Kurz und gut: Madame Nielsen lesen ist wie Georgette Dee hören. Lesen!!

 

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