Mittwoch, 26. August 2020

Simon Schwartz: Ikon (Deluxe Ausgabe)


 

„Ahh, endlich wachst du auf, mein Sohn!“ (Seite 17)

Für alle plötzlich so zahlreich auftauchenden Freunde „alternativer Fakten“ wäre diese Geschichte, die Simon Schwartz hier erzählt, ein wirklich gefundenes Fressen. Zahlreich würden selbsternannte Expert*innen auftreten, die selbstverständlich nur Fragen stellten, ganz ohne sehr dunkle Machenschaften böser und gar nicht so geheimer Logen etc. nebenher ins Gespräch zu bringen. Aber früher lief das alles etwas beschaulicher.

Die Russische Revolution stürzte 1917 das Regime des Zaren und brachte ihn mit seiner Familie in Gefangenschaft. Begleitet wurde die Zarenfamilie dabei unter anderem von ihrem Leibarzt und dessen Sohn Gleb Botkin. Gleb wuchs gemeinsam mit den Zarenkindern auf. Als die Zarenfamilie und auch Glebs Vater 1918 ermordet wurde, konnte Gleb fliehen. Er lebte schließlich in den USA.

Schon kurz nach dem Tod der Zarenfamilie kursierten offenbar immer mal wieder Gerüchte, dass sie hätten fliehen können, einzelne Familienmitglieder hätten überlebt. Besonders legendenbildend waren dabei offenbar Spekulationen über die jüngste Zarentochter Anastasia.

In Berlin wollte dann schließlich eine Krankenschwester einer Nervenheilanstalt die Zarentochter Anastasia in einer Patientin erkannt haben. Es gab Presse, adelige Expert*innen und Verwandte, von denen nur eine bereit war, Anastasia wiederzuerkennen. Die Patientin war dann irgendwann bereit zuzugeben, dass sie die Zarentochter sei. In der Folge fanden sich etliche Erklärungen, warum sie kein Russisch spreche, sich im Grunde auch an nicht viel erinnern könne. Aber die Legende war in der Welt.

Gleb Botkin lernt die vermeintliche Anastasia in den USA kennen, wo sie von der einzigen sie anerkennenden Verwandten vermögenden Exilrussen vorgeführt wird. Er, der mit Anastasia aufwuchs und sie gut kannte, will sie wiedererkennen. Und so konnte die Legende weiterleben – weil sich eben immer wieder jemand fand, der sie glauben wollte. Mal aus diesen, mal aus anderen Gründen.

Erst 2007 klären DNA-Analysen letztlich, dass die gesamte Zarenfamilie 1918 ermordet wurde. Die vorgebliche Anastasia war eine polnischstämmige Fabrikarbeiterin, die wohl schon länger als psychisch krank galt. Dass sie keine Nachfahrin der Romanows war, wurde schon bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ebenfalls durch eine DNA-Analyse nachgewiesen.

Ikonen kennen wir als Heiligenbilder, wie sie insbesondere in der Russisch-Orthodoxen Kirche eine lange Tradition haben. Zugleich ist ikonisch ein Zeichen, dass eine wahrnehmbare Ähnlichkeit zu dem aufweist, was es bezeichnet. Aus der Legende um die Zarentochter Anastasia und dem Zauber der Ähnlichkeit, die alternativen Fakten hinreichend Raum ermöglicht, webt Simon Schwartz seine Geschichte.

Die Erzählfäden um die Zarenfamilie, Glebs Leben nach seiner Flucht und eben die Geschichte der angeblichen Anastasia spinnt Schwartz ausgesprochen geschickt zu einem Garn, von dem ich mich beim Lesen gern einwickeln ließ. Zeit- und Ortswechsel bauten hinreichend Spannung auf, auch wenn das Ergebnis der Handlung in diesem Fall ja bekannt ist. Dass sich in kleinen Zwischenkapiteln auch noch etwas über Ikonenmalerei in Russland lernen lässt, rundet das Gesamtwerk ebenso ab wie der kleine Anhang mit historischen Erläuterungen und Fotos.

Der Zeichenstil dieses Comics harmoniert für meinen Geschmack perfekt mit der erzählten Geschichte. Und dass die erste Sprechblase auf Seite 17 erscheint und zuvor schon soviel erzählt wurde, spricht dafür, dass hier ein Zeichner am Werk war, der sein Fach bestens versteht.

Insbesondere in der Deluxe Ausgabe haben Zeichner und Verlag dann noch richtig zugeschlagen und sich kein Stück lumpen lassen. Diese Ausgabe hat die Bezeichnung Deluxe mehr als verdient.

Kurz und gut: Ein Comic, der auch ganz ohne das Label Graphic Novel einfach so richtig, richtig gut ist. Lesen!

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