Sonntag, 24. Januar 2021

Richard Ford: Kanada


(Übersetzung: Frank Heibert)

„Zuerst will ich vom Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben.“ (Seite 11)

Stell dir vor, du bist 15 Jahre alt, und lebst mit deinen Eltern und deiner Zwillingsschwester im fast hinterletzten Winkel der USA in Montana. Da dein Vater bis vor kurzem noch Soldat war, seid ihr immer wieder von Standort zu Standort umgezogen und nie irgendwo richtig angekommen. Mit deiner Schwester verbindet dich ein hauptsächlich, dass ihr kaum andere Leute kennt. Eure Mutter schreibt Gedichte und scheint irgendwie auf dem Absprung aus dieser Ehe zu sein. Du freust dich aufs College. Und dann verüben eure Eltern einen Banküberfall und werden erwischt. Das Leben, wie du es kanntest, endet hier.

Das ist die Geschichte von Dell, der sich allein in Kanada wiederfindet, wohin er von einer Freundin der Mutter gebracht wurde, nachdem sich die Schwester aus seinem Leben gestohlen hat. Um nicht als Staatsmündel von Eltern, die im Gefängnis sitzen in einem staatlichen Kinderheim oder schlimmerem zu landen, nimmt Dell sein neues Schicksal in diesem fremden Land und unter fremden Leuten an.

Fords Roman ist quasi bester Pandemie-Lesestoff. Er führt in der Zeit zurück in die frühen 60er Jahre und außerdem in zwei gottverlassene Gegenden, erst nach Montana, USA, und dann nach Saskatchewan, Kanada. Sowas Verrückt-Absurdes wie einen Virus braucht Ford nicht. Ihm reichen seine Hauptfiguren, ihr schicksalhaftes Handeln und das in die Ergebnisse der Handlungen anderer Geworfensein. Und natürlich insbesondere die beeindruckende Präriekulisse Kanadas.

Dells Bericht vom Banküberfall seiner Eltern und den wenigen Tagen danach, bis er sich in Kanada wiederfindet, nimmt etwas über die Hälfte des Romans ein. Der Banküberfall selbst kommt dabei grandios banal und unspektakulär daher. Dell geht es auch eher darum, das davor zu beleuchten, die Anzeichen nachträglich zu lesen. Das Gefüge der Familie wird regelrecht seziert. All dies dient dem Hinterfragen der Umstände, die dazu führen, dass sein eigenes Leben schlagartig ein ganz anderes werden muss.

In Kanada angekommen, muss Dell lernen, die Einsamkeit anzunehmen. Erst allmählich lernt er, dass er nicht unweigerlich immer mit den Umständen zurechtkommen muss, die andere auslösen. Das Akzeptieren der Umstände führt ihn langsam dahin, eigene Entscheidungen treffen zu können, erwachsen zu werden.

Ich verrate nicht zu viel, wenn ich noch erwähne, dass Dell in Kanada bleiben wird, seine Eltern nie wiedersieht, aber seiner Schwester noch einige wenige Male begegnen wird. Er wird auf ein Leben zurückblicken, dass er erst selbst in die Hände nehmen konnte, als er akzeptierte, dass die Handlungen anderer ihn in eine neue Welt stellten und das irreparabel ist.

Nachdem ich zuletzt eine ganze Reihe eher schneller Geschichten gelesen habe, war dieser Roman von Richard Ford noch einmal eine kleine Herausforderung. Ich hab es aber unbedingt genossen, mich dem Erzähler anzuvertrauen bei all den Rückblenden, Schleifen und Blicken über die Prärie Kanadas.

Kurz und gut: Wer entschleunigtes Erzählen, einen tiefen Blick in die Figuren und großartige Landschaftsbeschreibungen mag, der ist hier sowas von richtig. Lesen!

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