Sonntag, 18. Juli 2021

Guy Delisle: Geisel


(Übersetzung: Heike Drescher)

„In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli wurde ich entführt.“ (Seite 6)

Auf über 400 Seiten lässt Guy Delisle in dieser Graphic Novel Christophe André zu Wort kommen, der 1997 im Nordkaukasus entführt und über drei Monate als Geisel festgehalten wurde. Es ist also eine deutlich andere Art Reisebuch als die, die er bisher vorgelegt hat. In einer kurzen Vorbemerkung schreibt Delisle, dass er Andrés Geschichte so wiedergibt, wie dieser sie ihm erzählt hat.

André war Mitarbeiter einer NGO und im Nordkaukasus eingesetzt. Nach einer kleinen Feier, bei der Mitarbeiter:innen verabschiedet wurden, deren Dienstzeit sich dem Ende näherte, schläft er das erste Mal allein in der Unterkunft. Und prompt tauchen in dieser Nacht tschetschenische Separatisten auf, die ihn entführen.

Die nächsten Wochen und Monate verbringt Christophe André zumeist angekettet in kargen Zimmern, im Keller und auch in einem Schrank. Dies ist also die Geschichte eines Menschen, der je aus seinem gewohnten Leben und Umfeld gerissen wird, weder so recht weiß, wie ihm geschieht, noch warum. Abgeschottet von der Außenwelt und nur mit spärlichem Kontakt zu seinen Entführern ist er im Wesentlichen sich selbst überlassen.

Die Tage sind monoton. In der Regel gibt es zweimal am Tag Essen. Dann kann ich André auch wenige Momente frei bewegen. Ansonsten bleibt der Geisel nichts anderes als eine halbwegs aushaltbare Position zum Sitzen oder Liegen zu finden und die Decke anzustarren.

Fluchtfantasien, Fragen danach, warum die Befreiung immer noch nicht erfolgt ist, wer wohl die Entführer sein könnten, was sie wollen … wie viele Stunden am Tag und wie viele Tage hintereinander lässt sich diese Eintönigkeit an Eindrücken, diese Ungewissheit aushalten?

Delisles Bilder versuchen nicht, diese endlos eintönige Trostlosigkeit aufzupeppen, zu dramatisieren. Wir sehen immer wieder ähnliche Bilder, Blickwinkel, das ewig gleiche Zimmer nur in unterschiedlichen Lichtzuständen. Und wir hören Andrés Stimme, seine Gedanken und Fragen.

Das Seitenlayout mit einem 2x3 Panel-Grundraster bietet tatsächlich eine grandiose Umsetzung dieser Atmosphäre. Die spärlichen, überhaupt nicht opulenten Bilder verstärken die Tristheit, die André über so lange Zeit ertragen musste. Und es ist trotzdem gar nicht trist zu lesen.

Mit dieser Geschichte und deren Umsetzung hat mich Delisle tatsächlich mehr erreicht als mit seinen, durchaus gut unterhaltenden, anderen Werken. Obwohl hier so viel weniger passiert, empfand ich diese Story intensiver, dichter und prägnanter.

Kurz und gut: Dieser Band zeigt eine andere Facette von Delisles erzählerischem Können. Lesen!

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