Sonntag, 11. Juli 2021

John Lanchester: Die Mauer


(Übersetzung: Dorothee Merkel) 

„Es ist kalt auf der Mauer.“ (Seite 9)

 

Zunächst einmal ist das eine Temperaturfrage. Denn die Mauer ist unüberwindbar hoch und wurde an der Küste entlang rund um die britische Insel herum gebaut. Die Mischung aus deren Höhe, der Nähe zum Ozean und den klimatischen Bedingungen sorgt dafür, dass die Bewacher:innen der Mauer, die auf ihr patrouillieren, nicht zwischen warm und kalt, sondern zwischen verschiedenen Kältegraden unterscheiden.

 

Die Kälte bestimmt aber auch das soziale Klima. Die Verteidiger, wie diejenigen genannt werden, die hier ihren zweijährigen Dienst ableisten, wandeln buchstäblich auf einem schmalen Grad. Ihre Aufgabe ist es, die Mauer gegen die Anderen zu verteidigen, die sie überwinden und ins Landesinnere gelangen wollen. Sie sind verzweifelt genug, es immer wieder zu versuchen. Schaffen es Andere nicht nur über die Mauer sondern auch ins Hinterland, werden ebenso viele Verteidiger nach einem Disziplinarverfahren auf dem Meer ausgesetzt, wie Andere erfolgreich waren. Diese wiederum können zwischen dem Tod oder einem Leben als Dienstling wählen. Die Stimmung auf der Mauer ist also, gelinde gesagt, angespannt.

 

Der Ich-Erzähler ist ein junger Mann, der gerade als Frischling seine zwei Jahre auf der Mauer antritt. Mit ihm erleben wir die einschüchternde Größe des Bollwerks, die Herausforderung der 12-Stunden-Schichten, die Eintönigkeit und die Kleinigkeiten, die bei all dem plötzlich eine ungeahnte Wichtigkeit bekommen. Der Tee und der Snack, den die Köchin den Posten vorbeibringt, das Aufeinandertreffen mit dem Menschen, der in der anderen Schicht auf dem eigenen Posten steht, die zarten Bande des Kontakts, die sich zwischen dick eingepackten und in sich selbst zurückgezogenen Leuten so entstehen.

 

Über die Zeit, in der diese düstere Zukunftsversion spielt, erfahren wir nur so viel, wie für die Geschichte gerade notwendig ist. Nach dem großen Wandel, wie der Umsturz der Welt, wie wir sie kennen, genannt wird, stehen weite Teile der Erde unter Wasser. Diejenigen, deren natürliche Umgebung Schutz bietet, schotten sich ab gegen diejenigen, die nicht so viel Glück hatten und nur hoffen können, irgendwo einen bewohnbaren Flecken Erde zu finden. Die Gesellschaft auf der britischen Insel verbarrikadiert sich hinter der Mauer und wird von einer gesichtslosen Elite regiert, während das einfache Volk nur darauf hoffen kann, sich ein kleines überschaubares Leben aufbauen zu können. Alles ist auf die Abwehr der Anderen eingerichtet. Wer die genau sind, woher sie kommen – das ist egal. Sie sind die Anderen!

 

Der Ich-Erzähler, so viel kann ich verraten, findet sich letztlich eben auf der anderen Seite der Mauer wieder, auf dem Meer ausgesetzt. Den außer Band geratenen Elementen ausgesetzt zu sein ist das eine. Hier schützt aber keine Mauer vor den Anderen. Die Anderen sind die neben dir. Und für alle geht es ohne Pause ums Überleben. Sind Menschen, die so ums Überleben kämpfen müssen per se schlechte Menschen? Können im Schatten einer solchen Mauer Vertrauen und Menschlichkeit überhaupt gedeihen? Welchen Preis sind wir für unseren eigenen Schutz zu zahlen, wenn die Konsequenzen die Anderen tragen müssen? Wie so viele Dystopien enthält auch diese hier hochaktuelle Fragen unserer Zeit.

 

John Lanchester schreibt schnörkellos und stattet seinen Erzähler mit einem enorm guten Auge für Details aus. Auch ohne großen erzählerischen Pomp gelingt die Erzählung sowohl der trostlosen Stunden auf der Mauer als auch der dramatischen Wendungen, die die Schicksale der Charaktere hin und her wirft. Dem Autor gelingt jeder Satz.

 

Kurz und gut: John Lanchester ist für mich eine Entdeckung. Als Strandlektüre taugt es vielleicht nicht für alle gleichermaßen. Lesen!

 

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