Montag, 21. März 2022

Ling Ma: New York Ghost


(Übersetzung: Zoë Beck)

„Nach dem ENDE kam der ANFANG. Und am ANFANG waren wir acht, dann neun – das war ich –, eine Zahl, die nur abnehmen würde.“ (Seite 7)

Es gibt sie, diese Bücher, die literarisch etwas vorwegnehmen, das wenig später so sehr die Realität einholen wird, dass man sich ob dieser Hellsichtigkeit verwundert die Augen reiben mag. Das erzählerische Brennglas wird angesetzt, bevor noch irgendjemand hindurchschauen will. Um solch ein Buch handelt es sich bei diesem bereits 2018 im Original erschienenen Roman von Ling Ma.

Ich sage nur „Pandemieroman“. Glücklicherweise war von Corona noch nichts zu sehen oder zu hören, als diese Geschichte aufgeschrieben wurde. Das ermöglichte es der Autorin ein paar Dinge in den Blick zu nehmen und zu behalten, die wenig später von ganz vielen anderen Debatten rund um die Pandemie und deren Bekämpfung vermutlich überlagert worden wären – wie die Realität uns ja nur zu gut vorgeführt hat.

Aber erst einmal zur Geschichte, die in diesem Text erzählt wird:

Eine junge Frau, Candace Chen, arbeitet mitten in New York am Times Square bei einem Verlagsdienstleister. Ihre Aufgabe ist die Herstellung von Themenbibeln und die Koordination von deren Produktion in China. Zugute kommt ihr dabei, dass sie selbst als junges Mädchen mit ihren Eltern aus China in die Staaten kam. Zumindest wird dieser Pluspunkt seitens ihres Arbeitgebers so eingeschätzt. Der aber weiß natürlich nicht um die nicht ganz einfache Familien- und Einwanderungsgeschichte, die die Autorin geschickt in diese Endzeitgeschichte einbettet.

Nach einigem Widerstreben gegen das Leben als Rädchen im Getriebe des globalisierten Kapitalismus ist Candace mit diesem Verlagsjob genau dazu geworden. Und dieses Rädchen dreht sich und dreht sich, selbst als sich das Shen-Fieber über die globalen Lieferketten von China bis in die USA ausbreitet.

Ling Mas Beschreibung, wie das Fieber immer mehr um sich greift und langsam und unaufhaltsam das gesellschaftliche Leben und am Ende alles zum Stehen bringt, nimmt auf unheimliche Art und Weise und sehr präzise vorweg, was wir alle schockartig in den ersten Monaten der Corona-Pandemie erleben mussten.

Während der berufliche Alltag weiterläuft, tun sich die ersten Risse in der schönen bunten Konsumwelt auf, weil erst einzelne Produkte fehlen, dann Läden schließen und die Menschen sich immer mehr ins private zurückziehen. Die Infrastruktur zur Versorgung wird solang es geht aufrecht erhalten, Rettungs- und Sicherheitsdienste sind irgendwann das Einzige, was man noch regelmäßig in den Straßen sehen kann. Der öffentliche Nahverkehr ist da schon längst eingestellt. Angesichts unserer Erfahrungen mit den Lockdowns klingt das alles nun wirklich nicht mehr weit hergeholt.

Candace nimmt all die Einschränkungen recht stoisch hin und ist konzentriert darauf, weiter zu funktionieren und diese Hürden, die sie davon abzuhalten drohen zu meistern. Als der Weg zur Arbeit durch die Stadt kaum noch zu meistern ist, zieht sie kurzerhand ins hochgeschossige Bürohaus am Time Square. Dort ist außer ihr irgendwann ohnehin niemand anderes mehr. All dies erzählt Ling Ma so herrlich lakonisch und mit immer wieder trockenem Witz, dass auch mir als Leser die Ungeheuerlichkeit, die darin versteckt ist, erst nach und nach bewusst wurde.

Erst als so gar nichts mehr geht und nicht einmal die Sicherheitsleute noch zu sehen sind, entschließt sich Candace dazu, die Stadt zu verlassen. Sie trifft auf eine Gruppe, die offenbar ein Ziel vor Augen hat und von einem Kerl angeführt wird, der sich – so ganz im The Walking Dead Style – vom biederen, blassgesichtigen Angestellten in der Endzeit zum allwissenden Führer der Gruppe aufschwingt. Das Überleben der Menschheit möchte niemand in den Händen von solch einem Typen wissen. Leider klingt das alles nur allzu plausibel.

In der endzeitlichen Gegenwart begleitet die Geschichte diese Gruppe auf ihrem Weg zu der ganz sicher sicheren Zone, zu dem Ort, an dem sie das Ende der Welt überdauern können. Aber wie soll der moderne, von kapitalistischen Produktionszwängen zugerichtete Mensch eigentlich zurechtkommen in einer Welt, in der er und sie nur noch auf sich selbst zurückgeworfen sind, keine Werbung Hinweise darauf geben kann, was man denn jetzt brauchen könnte, keine Influencer mehr Orientierung bieten können und so weiter …

Der Titel des Romans verdankt sich dem Foto-Blog, den Candace Shen führt, als alles schon zusammenbricht. New York Ghost. Und vielleicht hätte es diese Pandemie gar nicht gebraucht, damit dieser Titel dennoch so gerechtfertigt wäre.

Die Mischung aus Familiengeschichte, Endzeitstory und gesellschaftskritischer Beschreibung gar nicht zu endzeitlicher Zustände hat mich mal so richtig erwischt. Einmal mehr kann ich dem Culturbooks Verlag nur danken, dass dieses Buch hier erscheinen konnte.

Kurz und gut: Ein grandios gut erzähltes Stück ganz gegenwärtiger Endzeitliteratur. Mehr davon – lesen!

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