Sonntag, 18. Februar 2024

Juliane Stückrad: Die Unmutigen, die Mutigen. Feldforschung in der Mitte Deutschlands


„Ich durchwühle die vollgestopften Schränke in meinem Arbeitszimmer.“ (Seite 12)

Mal wieder hat mich eine Lesereise nach Ostdeutschland geführt. Allerdings fiel sie dieses Mal deutlich gegenwärtiger, lebensalltäglicher und weniger abstrakt aus, als es sonst der Fall war. Dieses Buch schaut ins Hier und Heute, befragt und beobachtet Menschen an ihren sehr konkreten Orten und entdeckt viel Unmut aber auch Mutmachendes, wenn ich den Titel mal leicht variiert übersetzen darf. 😊

Stückrads Text las ich kurze Zeit nach Dirk Oschmanns vielbesprochenem Buch über den Osten. Letzteres wollte provozieren, stänkern und motzen, bot für meinen Geschmack aber halt auch nicht wirklich neue Erkenntnisse oder Schlussfolgerungen. Und ja, dazu schulde ich noch ein paar Gedanken, die ich aber in einem der nächsten Posts nachholen will.

Der hier vorliegende Band unterscheidet sich wohltuend von Oschmanns Text und Ansinnen. Und, das sei vielleicht gleich vorweggeschickt, bietet auch dem eingeborenen Ossi in mir ein paar ungeahnte Perspektiven auf Ostdeutschland.

Hier geht es mal nicht um historische Abläufe und deren Deutung, um soziologisch geprägte Perspektiven auf die ostdeutsche Gesellschaft und auch nicht um politische Interpretationen. Juliane Stückrad ist Ethnologin und fand ihren Forschungsgegenstand dort, wo sie aufgewachsen und verwurzelt ist. In dem Band präsentiert sie Ergebnisse ihrer Feldforschungen vorrangig im ländlichen Raum. Ihre Methode ist dabei das teilnehmende Beobachten und Befragen. Dazu gehört aber eben auch, die eigene Position, Beteiligung, Anteilnahme etc. transparent zu machen. Das ergibt insgesamt einen spannenden, persönlichen Bericht.

Natürlich habe auch ich bei dem Fach Ethnologie eher an die Erforschung ferner Völker und deren Rituale gedacht. Dabei liegt es ja eigentlich so nah, diesen spezifischen Blick mal auf das Eigene zu wenden. Zumal, wenn das mit der eigenen Identität als Ostdeutsche ja irgendwie immer noch so schwer fassbar oder beschreibbar erscheint. Aber vielleicht ist das auch nur mein persönlicher Eindruck.

Während Stückrad also ostdeutschen Alltag anhand vieler Beispiele beschreibt, konnte ich gar nicht anders als diese Beschreibungen auch immer in Bezug zu meinen eigenen Erfahrungen und Erinnerungen an den ostdeutschen ländlichen Raum zu setzen.

Und klar kenne ich das, was im ersten Teil des Buches in Sachen Unmut beschrieben wird auch den Ton, in dem Menschen vor Ort das beschreiben. Larmoyantes Meckern, Schimpfen, Rüpeln – Äußerungen des Frustes, der Enttäuschung, der Desillusionierung halt. Sofort habe ich dazu auch Gesichter und Stimmen vor Augen bzw. im Ohr aber auch Sachverhalte, Situationen, Konstellationen, auf die sich diese Äußerungen, Gefühle und Einschätzungen beziehen

Klar lassen sich auch bei soziologisch fundierten Erkenntnissen immer auch Bezüge zum eigenen Erfahrungswissen herstellen. Das Wiedererkennen in Stückrads Text empfand ich aber dennoch einmal anders. Sie beschreibt, wie schwer es ist, sich Menschen und Situationen erst einmal grundsätzlich unvoreingenommen zu stellen. Das habe ich als Einladung empfunden, bei den „Jammerossis“ nicht gleich selbst abzuschalten, sondern mit ihr gemeinsam zuzuhören. Allein dafür gebührt dem Buch und der Autorin schon ein dicker Dank.

Dankbar war ich beim Lesen auch, dass Juliane Stückrad ihrem Gefühl gefolgt ist, nicht beim Unmut stehen zu bleiben, sondern eben auch vom Mut und von den Mutigen zu berichten. Und das ist etwas anderes als das ewige „es war nicht alles schlecht“, sei das nun gerechtfertigt oder auch nicht. Es ermöglicht nämlich die Anerkenntnis, dass auch hier in Ostdeutschland ein Morgen denkbar ist, Leben stattfindet und stattfinden wird und damit auch die Möglichkeit gegeben ist, dass es etwas Gutes entsteht. Es ist, glaube ich, diese Art des Respekts, die ich in all den Debatten und Geschichten rund um den Osten oft vermisse.

Ich meckere ja auch gern über das Meckern der Ossis, das oft Verbohrte oder Kleinkarierte, das Beleidigtsein usw. Stückrad hilft aber mit ihren Beobachtungen, das erstmal respektierend anzunehmen, ohne zugleich gutheißen zu müssen oder ablehnen zu wollen. Und das ist doch mal ein anderer Ausgangspunkt für eine weitere Debatte. Denn dass die noch lange nicht zu Ende ist, ist wohl sicher.

Und bevor ich es vergesse: Ich mag die Gestaltung der Hardcoverbände vom Kanon Verlag schon recht gern, mit dem verkürzten Schutzumschlag. 😉

Kurz und gut: Wie sind sie denn nun, die Ossis? Ich sag mal: Ab in die Regionalbahn oder den Überlandbus, dieses Buch dabei und dann Augen und Ohren auf! Lesen!

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