Sonntag, 11. Februar 2024

Volker Surmann: Leon Hertz und die Sache mit der Traurigkeit


„Isabel quiekte. Dabei war ich noch gar nicht zu der Sache mit dem Kopf gekommen.“ (Seite 5)

Das waren Zeiten, als mir noch wichtig war, dass ich ja schon fast 14 Jahre alt wäre. Also früher, als Gefühle noch so richtig groß, bedeutend und natürlich noch nie von jemandem zuvor gefühlt worden waren. Als ich so vieles zum ersten Mal erlebte, durchlebte, fühlte, aber noch keine Ahnung hatte, wie wehmütig ich dann auch wenige Jahrzehnte später darauf zurückblicken würde. – Ok ok, genug der Klischees. 😉

Aber das Erschütternde ist ja, dass so ein kleines Stückchen davon sich immer echt anfühlt und fast alle sich darin irgendwie wiedererkennen können. Also spricht auch so gar nichts dagegen, sich schmökernd in eine Geschichte zu stürzen, die für eine deutlich jüngere Zielgruppe geschrieben wurde, und es einfach sehr zu genießen.

Die letzten beiden Lesenächte habe ich mit Leon verbracht. Ich war wirklich hautnah dabei, wie er sein Referat versemmelt und es filmreif gut wiederholte und in der schier endlos langen Zeit dazwischen, in der er zwar immer noch nicht 14 geworden ist aber um so vieles gereifter.

Im Fach Ethik soll sich die 8. Klasse, in die Leon geht, mit dem Tod auseinandersetzen. Das ist starker Tobak für Teenies, denen die eigene Endlichkeit vermutlich gerade erst langsam bewusst wird. Ein Holzkreuz, an dem seit drei Jahren regelmäßig frische Blumen stehen, wird zum Ausgangspunkt von Leons Referat. Es steht auf einer Verkehrsinsel mitten auf einer großen Berliner Straßenkreuzung direkt an auf seinem Schulweg. Das wenige, dass er herausfinden kann, macht sein Referat aus. Ein 23-jähriger Radfahrer wird von einem abbiegenden LKW überfahren und stirbt. Dazu, den Zuhörer:innen vorzurechnen, was es bedeutet, wenn ein vollbeladener LKW über einen Kopf … die Lehrerin bricht das Referat quasi ab, keine Fragen mehr, die Schüler:innen schauen komisch und Leon weiß nichts mehr zu sagen.

Wenn der Unfall schon drei Jahre her ist, wer stellt dann eigentlich und warum immer noch und immer wieder frische Blumen auf? Auf die Frage weiß Leon keine Antwort. Die Frage ist aber der Auftakt zu einer zweiten Chance. Er soll noch einmal recherchieren und das Referat noch einmal halten.

Einigermaßen verzweifelt fragt Leon ausgerechnet Rouven um Hilfe. Der einer der beiden letzten Emos an der Schule und hielt selbst ein Referat über Friedhöfe. Da Leon sonst keine Freunde hat und den stillen Rouven auch vorher eigentlich schon sympathisch fand, spricht er ihn an. Das ist der Anfang einer eigentlich unglaublichen Recherche und einer Freundschaft, bei der sich beide fragen, wieso sie eigentlich erst jetzt entstehen konnte.

Unglaublich ist die Suche nach Antworten nicht, weil der Unfall so außergewöhnlich wäre. Aber sie bringt Leon dazu, herauszufinden, warum genau er eigentlich auf dieses Kreuz aufmerksam wurde, er stellt sich seiner tiefsitzenden Traurigkeit und er kann endlich einmal vor einem anderen weinen, ohne vor Scham im Boden zu versinken.

Wenn wir älter geworden sind, erwachsen, wie es so schön heißt, haben wir allerhand emotionale Zustände schon einmal oder zumindest so ähnlich erlebt. Wir konnten einen Umgang damit finden, also wenn es gut lief. Wir können total gut alles Mögliche vollkommen rational erklären, weil Erwachsene das halt so machen. Kinder haben Fragen, vielleicht auch noch Jugendliche. Aber Erwachsene geben Antworten.

Verrückterweise vergessen wir so unglaublich schnell im Laufe unseres Lebens, wie es war, als wir noch nicht alles erklären konnten und so viel Ungeahntes, noch nie Gefühltes auf uns einstürmte, so dass wir nur den Kopf einziehen konnten. Und dann sollten wir trotzdem noch alles richtig machen.

Während der Recherche zu seinem zweiten Referatsversuch und während Leon und Rouven sich besser kennenlernen und anfreunden, müssen sich beide so manchen ihrer je eigenen Dämonen stellen. Und trotz der Traurigkeit, die beiden tief in den Knochen sitzt, entdecken sie auch die Leichtigkeit, die einen vor Lachen glucksen lässt, wenn man einander vertraut und sich einander anvertraut.

Volker Surmann gelingt es mit Leons und Rouvens Geschichte eine ganze Reihe von Themen anzusprechen, die für 13-Jährige untereinander aber auch mit den Eltern eine ziemliche Herausforderung sind und es gar nicht sein sollten: Gefühle, Traurigkeit, Mutlosigkeit aber auch Verliebtheit, Sexualität, Anderssein oder sich Andersfühlen. Sehr dankbar bin ich, dass auch Homosexualität eine Rolle spielt, und vor allem, dass das trotzdem nicht das Haupttema ist – nicht der Story und auch nicht der beiden Hauptfiguren.

Sehr gelungen finde ich die Whatsapp-Verläufe von Leon und Rouven, gerade weil die Frage der Jugendsprache in Büchern für jugendliche Leser:innen ja so wichtig ist. Wie klingen Teenies denn authentisch in literarischen Texten? Seit „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf beschäftigt mich das immer wieder, auch weil der dort die Messlatte so unglaublich hochgelegt hat. Herrndorf kreierte in seinem Roman eine Sprache, die reale Jugendliche so nie sprechen würden, schaffte es aber, dass jedes Wort absolut authentisch wirkte. Surmann geht hier einen leicht anderen Weg und legt den Teenies hier durchaus trendige Formulierungen in den Mund. Das funktioniert für mich selbst, weil ich mich durchaus auch an Sprüche aus den letzten 30 Jahren erinnern kann. Sie sind aber eben doch oft eher zeitgebunden. Besonders authentisch finde ich Leons und Rouvens Stimme immer da, wo der Autor auf Jugendsprache im eigentlichen Sinn verzichtet. Da glaube ich den beiden wirklich jedes Wort. Und falls das jetzt wie Meckern klang, dann war es Meckern auf wirklich krass hohem Niveau. 😊

Ich habe mich, dass kann ich ganz ohne Übertreibung schreiben, heftig in diese Story und ihre Charaktere verliebt. Die Geschichte, Leon als Erzähler, die Konstellationen und die vielen kleinen treffsicheren Bemerkungen und Erkenntnisse – all das hat mich das Buch ungelogen in zwei Lesenächten wegschmökern lassen. Ich habe geschmunzelt, gelacht und oft genug feuchte Augen bekommen und hätte am liebsten die Hälfte des Personals des Romans in die Arme genommen. Klarer und unmissverständlicher lässt sich die Weisheit, die wir alle in jungen Jahren mal instinktiv fühlen konnten und auf dem Weg durchs Erwachsenenleben so oft dann doch vergessen haben, eigentlich nicht in Worte fassen, als es dieser Roman schafft: zuhören, miteinander reden und wirklich zuhören!

Noch einmal sage ich danke für dieses Leseexemplar und die Stunden, die ich mit ihm verbringen durfte!

Kurz und gut: Für alle, die wie ich die Vierzig knapp *hüstel* überschritten haben: Lest mehr Jugendbücher und ganz unbedingt dieses! Und schenkt es euren Kindern oder Teenies, die ihr kennt! 😉

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