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Donnerstag, 19. Juli 2018

Robert Seethaler: Die weiteren Aussichten


„Herbert Szevko steht nackt und gekrümmt da und schaut in ein kleines rundes Aquarium hinein.“ (Seite 5)

Das Aquarium steht in Herberts Zimmer. Das liegt im oberen Stock des Häuschens, welches er zusammen mit seiner Mutter bewohnt. Das Häuschen steht hinter einer kleinen Tankstelle, die Herbert und seine Mutter gemeinsam bewirtschaften. Die Tankstelle liegt an einer Landstraße. Und die kommt aus dem Nichts und führt ins Nichts. Hinter den Hügeln in der einen Richtung liegt aber zumindest eine Ortschaft mit einem Schwimmbad. Und das wird gleich noch wichtig.

Frau Szevko, Herbert und Georg leben hier. Alle anderen fahren nur vorbei und halten allenfalls kurz an. Georg bewohnt das runde Aquarium und bekommt davon nicht so viel mit. Da sich an diesem Flecken Erde aber ohnehin eigentlich nichts zuträgt, lässt sich nicht behaupten, dass Georg so sehr viel verpassen würde.

Recht schnell wird aber klar, dass Frau Szevko und ihr Sohn Herbert in dieser abgehängten Gegend am Rande vom Nichts noch am Rande wohnen. Sie sind die komischen Käuze, die selbst das letzte Kaff braucht, um so etwas wie Normalität und Zugehörigkeit zum Rest der Welt empfinden zu können.

Dann aber kommt ein einfach so ein blaues Klapprad daher geradelt auf der Landstraße. Natürlich fährt es nicht von selbst sondern wird getreten von Hilde. Und diese kleine rundliche, eher schon dralle Hilde ist auf dem Weg in die Ortschaft mit dem Schwimmbad. Und zwar wird sie dort eine neue Stelle antreten, als Putzfrau, im Schwimmbad. Das allein wäre fast schon aufregend, versetzt aber unausweichlich dem Gang dieser Geschichte einen kräftigen Tritt, weil Herbert quasi vom Schlag getroffen so ein ganz komisches und ungewohntes Gefühl bekommt. Und weil Hilde findet, es mit Herbert gar nicht so schlecht treffen, sind die beiden dann recht bald ein Paar.

Hilde zieht in das Häuschen hinter der Tankstelle an der Landstraße, und Georg hat fortan etwas zum Anschauen. Ich meine jetzt nicht, dass Hilde sich an ihren Herbert kuschelt unter der Decke. Sondern vielmehr die Veränderungen, die in Herbert vorgehen oder eigentlich aus ihm herausbrechen. Das Leben könnte plötzlich auch anders sein, als es vor Hilde war. Herbert hat etwas gefunden, das ihm wichtig ist, auch wenn er kaum Worte dafür findet. Dafür beginnt er selbst seiner Mutter gegenüber einen eigenen Kopf zu entwickeln. Und die, also Frau Szevko, mag diese Hilde gar nicht, die sich hier ins gemachte Nest setzen will. Das wenigstens meint die Frau Szevko.

Außerdem gibt es noch den Bürgermeister, der die Tankstelle endlich weghaben will, weil er wichtigere Interessen verfolgt. Und einen Dorfrüpel gibt es auch noch, der die Hilde angrabbscht. Das alles, und dass Frau Szevko nach dramatischen Entwicklungen ins Krankenhaus muss, sorgt dafür, dass nur noch eines bleibt, die Flucht in einem Krankenwagen. Und die Tankstelle brennt ab.

Seethalers große, wirklich große Kunst ist es, dass man gar nicht hinterher kommt mit den eigenen Gefühlen beim Lesen. Herbert, Hilde, Frau Szevko – die sind liebenswert, beschränkt, naiv, liebevoll, impulsgesteuert, eifersüchtig, bodenständig … Egal, ob ich den dreien gerade am liebsten eine runtergehauen hätte, um sie zu Besinnung zu bringen, oder ob ich sie in den Arm nehmen wollte, um ihnen zu versichern, dass ganz sicher alles auch für sie gut werden wird – diese Charaktere sind herzergreifend gezeichnet. Nur ein Stein könnte da, im Guten wie im Bösen, kein Mitgefühl empfinden.

Und das genau ist wohl eines, dass Bücher wie dieses lehren können. Egal wie klein und einfach Leute erscheinen mögen, wie sehr abgehängt sie scheinen mögen – sie leben und lieben und hoffen wie alle anderen auch. Eine Gesellschaft, in der das Mitgefühl unter den Menschen verloren geht, die hängt sich selbst ab.

Wofür ich Seethaler wirklich bewundere sind Sätze wie dieser: „Wo nämlich die Normalität beleidigt ist, kann die Pädagogik einpacken.“ (Seite 5) Auch wenn der Gedanke etwas aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen mag, ich finde das großartig. Und immer wieder taucht unvermittelt genau so ein Satz auf, bei dem Seethaler.

Kurz und gut: Diese Geschichte packt sich das Herz und lässt bis zur letzten Zeile nicht mehr los. Und das ohne auch nur den Anflug von Kitsch. Lest Robert Seethaler! Alle! Jetzt!

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Sonntag, 26. Februar 2017

Philipp Tingler: Fischtal



„Ich weiß nicht“, flüsterte Lilli und fasste Gustav am Arm, „ist es richtig, was wir hier tun?“
„Was meinst du?“, fragte Gustav zurück.
„Ich meine, hier das Haus auszuräumen“, erwiderte Lilli. „Damit will ich sagen: Das ist doch im Grunde … nun ja: skrupellose Raffgier – und steht somit gegen alles, was mir anerzogen wurde.“ (Seite 9)

Lilli ist Gustavs engste Freundin. Und Gustav kehrt nach Jahren zurück, um mit ihrer Hilfe das Haus seiner verstorbenen Großmutter nach Erbstücken zu durchforsten. Hier verbrachte er die letzten Jahre seiner Jugend, abgeschoben von seiner eigenen überforderten Familie, und erlebte den Untergang des alten, großbürgerlichen Westberlins. Das Stöbern in den Hinterlassenschaften bietet Anlässe für Rückblenden und Erinnerungsfetzen zur Genüge; sei es das Zimmer der alten Dame, ein Stöckelschuh, die Pillendose oder das gute Besteck.

Anhand der zersplitterten und zerrütteten Familie zeichnet der Autor Philipp Tingler das Bild eines gesellschaftlichen Biotops, in dem nur die Fassade zählt. Das beharrliche Ignorieren von Zerfallssymptomen – Pillen zur Beruhigung der Nerven, Alkoholsucht gegen die Tristesse der eigenen emotionalen Sprachlosigkeit – gilt als unbeugsame Haltung, der die eigenen Kinder nicht weniger sprach- und hilflos schnellstens zu entfliehen suchen.

Zurück bleibt ein 17-Jähriger, der das gemeinsame Essen mit Großmutter und Hausangestellter als letztes gesellschaftliches Großereignis zu ertragen hat. Der Rest der Welt, oder auch nur Westberlins, taucht allenfalls schemenhaft hinter dicken Milchglasscheiben auf.

Als Rucksackberliner, der weit nach dem beschriebenen Untergang des alten Westberlins in die Stadt kam, kenne ich die verschiedenen Soziotope der alten Frontstadt nur vom Hörensagen. Überreste links-alternativer Biotope sind mir dabei näher als die zweifellos noch erkennbaren Überbleibsel des alten Westberliner Großbürgertums, welche sich zum Beispiel in Form der immer noch quicklebendigen Berliner Baumafia zeigen. Insofern erhoffte ich mir von Tinglers Roman ein etwas klarer umrissenes Bild.

Mehr als eine hübsch verschnörkelte Fassade ergab sich für mich allerdings nicht. Die Figuren blieben merkwürdig blutarm, wobei das beim Großteil des Personals sicherlich genau der Absicht des Autors entsprach. Zumindest der Hauptfigur hätte ich aber etwas mehr an Entwicklung gegönnt. Zumal dies vielleicht der Dekonstruktion dieser gefühlskalten, oberflächlichen Welt den notwendigen Resonanzboden gegeben hätte. So führt Tingler mit schön gedrechselten Sätzen, schon witzigen, aber eben trotzdem blutleeren Beschreibungen durch die Kulissen, beschreibt die Fassade – und bleibt dabei stehen.

So habe ich mich durchaus gut unterhalten gefühlt, das eine oder andere Mal geschmunzelt – aber das Buch letztlich doch unbefriedigt beendet.

Es bleibt ein: Kann man mal gelesen haben.

P.S.: Fischtal in Zehlendorf gibt es wirklich. Auch ohne das Buch in der Hand werde ich da mal hinfahren und mich umschauen. ^^

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