Sonntag, 26. Februar 2017

Philipp Tingler: Fischtal



„Ich weiß nicht“, flüsterte Lilli und fasste Gustav am Arm, „ist es richtig, was wir hier tun?“
„Was meinst du?“, fragte Gustav zurück.
„Ich meine, hier das Haus auszuräumen“, erwiderte Lilli. „Damit will ich sagen: Das ist doch im Grunde … nun ja: skrupellose Raffgier – und steht somit gegen alles, was mir anerzogen wurde.“ (Seite 9)

Lilli ist Gustavs engste Freundin. Und Gustav kehrt nach Jahren zurück, um mit ihrer Hilfe das Haus seiner verstorbenen Großmutter nach Erbstücken zu durchforsten. Hier verbrachte er die letzten Jahre seiner Jugend, abgeschoben von seiner eigenen überforderten Familie, und erlebte den Untergang des alten, großbürgerlichen Westberlins. Das Stöbern in den Hinterlassenschaften bietet Anlässe für Rückblenden und Erinnerungsfetzen zur Genüge; sei es das Zimmer der alten Dame, ein Stöckelschuh, die Pillendose oder das gute Besteck.

Anhand der zersplitterten und zerrütteten Familie zeichnet der Autor Philipp Tingler das Bild eines gesellschaftlichen Biotops, in dem nur die Fassade zählt. Das beharrliche Ignorieren von Zerfallssymptomen – Pillen zur Beruhigung der Nerven, Alkoholsucht gegen die Tristesse der eigenen emotionalen Sprachlosigkeit – gilt als unbeugsame Haltung, der die eigenen Kinder nicht weniger sprach- und hilflos schnellstens zu entfliehen suchen.

Zurück bleibt ein 17-Jähriger, der das gemeinsame Essen mit Großmutter und Hausangestellter als letztes gesellschaftliches Großereignis zu ertragen hat. Der Rest der Welt, oder auch nur Westberlins, taucht allenfalls schemenhaft hinter dicken Milchglasscheiben auf.

Als Rucksackberliner, der weit nach dem beschriebenen Untergang des alten Westberlins in die Stadt kam, kenne ich die verschiedenen Soziotope der alten Frontstadt nur vom Hörensagen. Überreste links-alternativer Biotope sind mir dabei näher als die zweifellos noch erkennbaren Überbleibsel des alten Westberliner Großbürgertums, welche sich zum Beispiel in Form der immer noch quicklebendigen Berliner Baumafia zeigen. Insofern erhoffte ich mir von Tinglers Roman ein etwas klarer umrissenes Bild.

Mehr als eine hübsch verschnörkelte Fassade ergab sich für mich allerdings nicht. Die Figuren blieben merkwürdig blutarm, wobei das beim Großteil des Personals sicherlich genau der Absicht des Autors entsprach. Zumindest der Hauptfigur hätte ich aber etwas mehr an Entwicklung gegönnt. Zumal dies vielleicht der Dekonstruktion dieser gefühlskalten, oberflächlichen Welt den notwendigen Resonanzboden gegeben hätte. So führt Tingler mit schön gedrechselten Sätzen, schon witzigen, aber eben trotzdem blutleeren Beschreibungen durch die Kulissen, beschreibt die Fassade – und bleibt dabei stehen.

So habe ich mich durchaus gut unterhalten gefühlt, das eine oder andere Mal geschmunzelt – aber das Buch letztlich doch unbefriedigt beendet.

Es bleibt ein: Kann man mal gelesen haben.

P.S.: Fischtal in Zehlendorf gibt es wirklich. Auch ohne das Buch in der Hand werde ich da mal hinfahren und mich umschauen. ^^

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