„Ich weiß nicht“, flüsterte Lilli und fasste Gustav am Arm, „ist
es richtig, was wir hier tun?“
„Was meinst du?“, fragte Gustav zurück.
„Ich meine, hier das Haus auszuräumen“, erwiderte Lilli. „Damit
will ich sagen: Das ist doch im Grunde … nun ja: skrupellose Raffgier – und steht
somit gegen alles, was mir anerzogen wurde.“ (Seite 9)
Lilli ist Gustavs engste Freundin. Und Gustav kehrt nach
Jahren zurück, um mit ihrer Hilfe das Haus seiner verstorbenen Großmutter nach
Erbstücken zu durchforsten. Hier verbrachte er die letzten Jahre seiner Jugend,
abgeschoben von seiner eigenen überforderten Familie, und erlebte den Untergang
des alten, großbürgerlichen Westberlins. Das Stöbern in den
Hinterlassenschaften bietet Anlässe für Rückblenden und Erinnerungsfetzen zur
Genüge; sei es das Zimmer der alten Dame, ein Stöckelschuh, die Pillendose oder
das gute Besteck.
Anhand der zersplitterten und zerrütteten Familie zeichnet der
Autor Philipp Tingler das Bild eines gesellschaftlichen Biotops, in dem nur die
Fassade zählt. Das beharrliche Ignorieren von Zerfallssymptomen – Pillen zur
Beruhigung der Nerven, Alkoholsucht gegen die Tristesse der eigenen emotionalen
Sprachlosigkeit – gilt als unbeugsame Haltung, der die eigenen Kinder nicht
weniger sprach- und hilflos schnellstens zu entfliehen suchen.
Zurück bleibt ein 17-Jähriger, der das gemeinsame Essen mit
Großmutter und Hausangestellter als letztes gesellschaftliches Großereignis zu
ertragen hat. Der Rest der Welt, oder auch nur Westberlins, taucht allenfalls
schemenhaft hinter dicken Milchglasscheiben auf.
Als Rucksackberliner, der weit nach dem beschriebenen
Untergang des alten Westberlins in die Stadt kam, kenne ich die verschiedenen
Soziotope der alten Frontstadt nur vom Hörensagen. Überreste links-alternativer
Biotope sind mir dabei näher als die zweifellos noch erkennbaren Überbleibsel
des alten Westberliner Großbürgertums, welche sich zum Beispiel in Form der
immer noch quicklebendigen Berliner Baumafia zeigen. Insofern erhoffte ich mir
von Tinglers Roman ein etwas klarer umrissenes Bild.
Mehr als eine hübsch verschnörkelte Fassade ergab sich für
mich allerdings nicht. Die Figuren blieben merkwürdig blutarm, wobei das beim
Großteil des Personals sicherlich genau der Absicht des Autors entsprach. Zumindest
der Hauptfigur hätte ich aber etwas mehr an Entwicklung gegönnt. Zumal dies
vielleicht der Dekonstruktion dieser gefühlskalten, oberflächlichen Welt den
notwendigen Resonanzboden gegeben hätte. So führt Tingler mit schön
gedrechselten Sätzen, schon witzigen, aber eben trotzdem blutleeren
Beschreibungen durch die Kulissen, beschreibt die Fassade – und bleibt dabei
stehen.
So habe ich mich durchaus gut unterhalten gefühlt, das eine
oder andere Mal geschmunzelt – aber das Buch letztlich doch unbefriedigt
beendet.
Es bleibt ein: Kann man mal gelesen haben.
P.S.: Fischtal in Zehlendorf gibt es wirklich. Auch ohne das
Buch in der Hand werde ich da mal hinfahren und mich umschauen. ^^
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