Dienstag, 19. November 2024

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden


„Eine Kindheit um 1960. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen.

Doch überall spürt der Junge Risse. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie. Dieses Kind erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt.

Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich. Voller Witz und Musikalität.“ (Umschlagtext)

Es gibt tatsächlich eher wenige Autor:innen, von denen ich ein Bild vor Augen habe, weil ich mich meist auf die Texte konzentriere. Dass ich noch viel zur Person nachlese, kommt recht selten vor – zumeist erst, bevor ich, nach dem Lesen, versuche meine Leseeindrücke in Worte zu fassen.

Bei Schauspieler:innen, die mir plötzlich als Autor:innen über den Weg laufen, ist das per se anders – sofern die vorher schon kannte natürlich. Eine gewisse Skepsis kann ich in diesen Fällen nicht verhehlen. Nicht, weil ich denen nicht zutrauen würde, dass sie etwas zu sagen hätten und dafür passende Worte fänden. Aber Schauspielerei, auch wenn sie natürlich Erzählen beinhaltet, ist natürlich etwas anderes als das Schreiben an sich. Denk ich mir so. 😉

Kurz, Geschichten übers Erwachsenwerden kriegen mich ja eh oft. Weil sich auch die Zeiten, in denen es stattfindet, so wunderbar darin spiegeln lassen. Dieser Roman ist offenbar zumindest autobiografisch geprägt. Schauen wir also mal, was er kann. 😊

„Ich schaue durchs Schlüsselloch. Ist ja gerade niemand in der Nähe. Ich wundere mich über das Bild vor meinem Auge: Der Rahmen hat die Form einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur, im Zentrum mein Vater, der eine ziellose Runde auf dem Teppich dreht. Irgendetwas beschäftigt ihn. Er findet einen Fussel am Boden, hebt ihn auf und legt ihn sorgfältig auf den Wohnzimmertisch. Er geht zu seinem Lieblingsgemälde, Rembrandts ‚Mann mit dem Goldhelm‘. Sieht fast so aus, als ob er mit dem Bild redet. Dann schreitet er zum Flügel, dreht sich um und schaut direkt zu meiner Tür. Ich bekomme einen Schreck, aber so dumm bin ich nicht: Er kann mich nicht sehen. Er legt eine Hand auf den schwarzen Deckel des Instruments und – verbeugt sich. Er steht allein in seinem Flügelzimmer und verbeugt sich in Richtung der Tür, hinter der ich stehe! Dabei lächelt er wie eine alte Katze und nickt mehrmals in verschiedene Richtungen. Auch in meine. Als sei ich ein Saal voller Leute! Der ist ja wie ich, schießt es mir durch den Kopf.“ (Klappentext)

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Sonntag, 17. November 2024

Bastian Schlange: Das einzig wahre Faktencheckbuch. Recherchen, Einblicke und Erfahrungen von Deutschlands erster Faktencheckredaktion


„Wie ein Schaulustiger am Rand der Datenautobahn – so habe ich mich manchmal während der Arbeit für dieses Buch gefühlt.“ (Seite 7)

Auf der #lbm23 konnte ich die Buchvorstellung mit Bastian Schlange live erleben, nachdem ich diesen Band am Stand vom Correctiv Verlag entdeckt und gleich gekauft hatte. Die Gesprächsrunde war sehr spannend und wie das Buch ein faszinierender Blick hinter die Kulissen der Faktencheckredaktion.

Bevor ich etwas zum Inhalt schreibe, will ich mal die Gestaltung und Aufmachung des Buches hervorheben. Da hat sich der Verlag wirklich große Mühe gegeben und ein Buch gestaltet, dass rein optisch einfach Spaß macht. Ein großzügiger Satzspiegel mit viel Platz am Rand für Einfügungen, Querverweise, Links, passend gesetzte Farben, einzig die Printqualität der Fotos ist hier und da suboptimal. Insgesamt, echt gelungen.

Bastian Schlange führt mit einem recht persönlichen Vorwort in die Geschichte von Correctiv ein und verhehlt auch nicht die negativen psychischen Folgen der Arbeit in der Redaktion für ihn selbst. Ein paar weitere Stimmen aus der Redaktion ergänzen diesen Zugang, der einigen der Macher:innen ein Gesicht und eine Geschichte gibt.

Neben der Geschichte der Anfänge von Correctiv bietet das Buch aber auch eine Darstellung der Desinformation, die wir gesellschaftlich seit 2010 erleben. Die Rückschau führt dabei in die USA und stellt einige Namen vor, die offensichtlich genug Geld und eine feste Ideologie haben. Die transatlantische Vernetzung von rechtskonservativ bis rechtsextrem sorgte dafür, dass auch Europa und damit auch Deutschland in den Fokus von diesen Bestrebungen geriet.

Spätestens seit Corona und dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine 2022 kommt gezielte Desinformation nicht nur aus dem Westen von entsprechenden Netzwerken, sondern auch als staatliche Strategie aus dem Osten von Russland aus.

Vor dem Hintergrund fand ich das Aufdröseln, welche Arten von Desinformation Correctiv ausmachen konnte, sehr hilfreich. Gerade weil vieles von dem für ganz normale Nutzer:innen des Internets kaum erkennbar zu sein scheint.

Die Schlussfolgerung, auf die das Buch hinausläuft, ist dann auch folgerichtig, fast schon banal. Wir brauchen mehr Mediennutzungskompetenz. Oder eine „redaktionelle Gesellschaft“, wie es Correctiv nennt. Das geht auch über die reine Nutzungskompetenz hinaus und fordert im Grunde, dass redaktionelles, faktenbasiertes, diskursfreundliches Handeln für demokratische Gesellschaft grundlegend sein sollte.

Deklinieren wir das durch, könnte das eine Methode sein, uns alle wieder sehr viel mehr für unsere Belange als Gesellschaft zu interessieren und einzusetzen und Formen auszuprobieren, wie das zu organisieren sei. Find ich nen spannend Punkt, der schon über das Heute hinausweist.

Kurz und gut: Inspirierend und ein gute Gedanken- und Gesprächsauftakt. Lesen!

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Samstag, 16. November 2024

Garth Risk Hallberg: City on Fire


„Ein Weihnachtsbaum kam die Eleventh Avenue herauf.“ (Seite 15)

Eines schon mal vorweg: Dieser wirklich dicke Schinken war viel zu gut, um ihn abzubrechen. Aber ich habe eine halbe Ewigkeit gebraucht und etliche Leseabschweifungen dabei mitgenommen.

Kennt ihr das: Immer, wenn man mal wieder eine erste Seite gelesen hat, mag man das Buch gar nicht so schnell weglegen. Aber trotzdem gibt es eine Hürde, immer wieder dazu zurückzukommen?

An der Story hat das definitiv nicht gelegen. Das ist schon, wie der Umschlagtext verspricht, ein New York Roman. Die Stadt vorrangig in den Siebzigern ist das literarische Spielfeld und auf jeder Seite präsent. Ob es der Gegensatz zwischen heruntergekommenen Vierteln, die nur darauf warten, dass sie zum Spekulationsobjekt werden, und dem unfassbaren und protzig zur Schau gestellten Reichtum ist. Oder das Lebensgefühl entweder am Abgrund zu leben oder unfassbar satt und zugleich gierig zu sein. Das Leben nur noch mit Drogen zu betäuben oder mit rotzigem Punk oder mit beidem. Sex auch, weil man nichts Besseres zu tun weiß. Und ein bisschen Apokalypsenfeeling obendrauf.

Der Hauptbogen spannt sich zwischen einer Winternacht, in der Entwicklungen in Gang gesetzt werden, und dem darauffolgenden Sommer, in dem ein Blackout nicht nur die ganze Stadt lahmlegt, sondern gleich noch unumkehrbare Einsichten bringt.

Wie lose Enden verfolgt die Geschichte das Leben zweier Punk Teenager aus der Vorstadt, einen an sich selbst scheiternden Möchtegernautor, zwei viel zu reich geborene Geschwister, die beide an ihrem Erbe verzweifeln, einen Fast-noch-Ehemann auf abwegigen Abwegen, einen zweifelnden Polizisten mit mehr als einem Gebrechen, einen nicht ganz so rasenden Reporter. Und natürlich haben alle etwas miteinander zu tun.

Der Roman lässt sich auch gut Zeit damit, die Verbindungen aufzudecken. Erzählt das aber letztlich recht unterhaltsam, durchaus auch mit ironischem Ton. Immer wieder hab ich mich dabei ertappt, dass ich dachte, dass auf den letzten 30 Seiten auch gut hätte mehr passieren können. Es ist aber nicht so, dass mich diese Art der Langsamkeit tatsächlich genervt hätte.

Zwischendurch habe ich immer wieder überlegt, ob das Lebensgefühl in diesen westlichen Metropolen – auch über die Zeiten hinweg – nicht letztlich immer große Ähnlichkeiten aufweist. Ich meine, eine Stadt der Gegensätze ist Berlin durchaus auch. Menschen, die glauben, sie hätten schon alles gesehen und erlebt oder die einfach lebenssatt und bis ins Mark gelangweilt sind – das klingt doch irgendwie bekannt.

Da ich in den Siebzigern gerade zur Welt kam, kann ich nicht recht ermessen, was das Lebensgefühl in diesem Jahrzehnt ausgemacht haben könnte. Aber es wirkt in diesem Roman alles so merkwürdig dazwischen. Die gute alte Zeit scheint definitiv vorüber zu sein, ohne dass schon klar wäre, ob die kommende eine bessere würde oder eben nicht. Irgendwas zwischen Aufbruch und Resignation. Und vielleicht ist auch alles egal. Aber das sind eher nur meine Assoziationen.

Ist das ein guter Roman? Ich denke schon. Er ist unterhaltsam, nachdenklich, geschrieben mit genauem Blick auf Details und ohne Angst, Situationen wirklich auszuerzählen. Trotzdem wird er wohl eher ins Regal wandern, ohne dass ich daran denke, ihn vielleicht irgendwann noch einmal zu lesen. Irgendwie dazwischen halt.

Kurz und gut: Sind doch nur knapp 1070 Seiten. Kann man lesen!

(Übersetzung: Tobias Schnettler)

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Donnerstag, 14. November 2024

Sorority (Hrsg.): No More Bullshit. Das Handbuch gegen sexistische Stammtischweisheiten


„Eine Aussage oder ein Argument zum ‚Bullshit‘ zu erklären, ist eine starke Geste.“ (Seite 9)

Wer dachte, #metoo hätte ein für alle Mal aufgeräumt mit diesem Sexismus, weil doch endlich mal ausgesprochen wurde, was so lange fein beschwiegen, beschwichtigt, abgewiegelt wurde, der muss sich eines Besseren belehrt fühlen.

Spätestens die zunehmend polarisierten Debatten der letzten Jahre haben auch hier eine Diskursverschiebung bewirkt. Klar, wir alle lesen und sehen immer wieder, dass für Menschen im Rampenlicht ganz schnell das Licht ausgeschaltet wird, wenn sexistisches Verhalten ruchbar wird. Trotzdem landet man „am Stammtisch“ dann ganz schnell beim Gendern und schwupps ist da nicht mehr viel mit neuer Einsicht und Erkenntnis. Mindestens gefühlt scheinen sich alte Klischees nicht nur zu halten, sondern gern als Alibi immer wieder neu aufgelegt zu werden.

„Mittlerweile werden Männer* diskriminiert.“
„Also, ich fühle mich nicht unterdrückt.“
„Sei nicht so sensibel.“
„Qualität statt Quote!“
„Verstehst du keinen Spaß?“

Das sind nur einige Klischees, die in diesem handlichen und wirklich toll gelayouteten Buch als Kapitel behandelt werden. Und ehrlich, sind sie nicht alle sattsam bekannt und weiterhin aktuell?

Die große Stärke dieses schmalen, schon 2020 erschienenen Bandes, ist die wunderbare Mischung aus Einordnung, Kommentierung, Argumentationshilfe – und trotz des Themas Spaß am Lesen. Ich hatte ja schon so einiges an Material, insbesondere Argumentationshilfen, in der Hand. Dieses Handbuch sticht für mich deutlich heraus.

Es setzt nicht auf schlechtes Gewissen, sondern auf Aufklärung im besten Sinne. Autor:innen von Stefanie Sargnagel bis Lady Bitch Ray liefern eine Reihe von Zugängen und Perspektiven und lassen es für meinen Geschmack ganz praktisch und verständlich werden.

Wenn die Annahme denn richtig ist, dass es wenigstens in Teilen der Gesellschaft einen diskursiven Backlash beim Thema Sexismus aber auch Gleichberechtigung gibt, dann zeigt es angesichts auch von erschreckenden Wahlergebnissen für autoritäre oder autoritär-affine Parteien eigentlich genau eines: Kein gesellschaftlicher Fortschritt ist von Dauer, nur weil er einmal erreicht wurde. Und das gilt außerdem auch für jegliche Minderheitenrechte.

Rechtsschwurbler und populistische Politchamäleons machen immer wieder deutlich genug, dass sie nur zu bereit sind, für vermeintlich höhere Ziele solche Errungenschaften ganz schnell zurückzudrehen. Und deshalb braucht es solche Bücher auch 2024 noch.

Kurz und gut: Gut gelaunt beim Stammtisch mal auf den Tisch hauen. Lesen!

(Übersetzung: kommt aus Österreich, muss gar nicht übersetzt werden 😊)

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Mittwoch, 13. November 2024

Percival Everett: Erschütterung


„Der Paläontologe Zach Wells hat sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit bequem eingerichtet. Idealen misstraut er, ob an der Universität, wo er, selbst Afroamerikaner, sich nicht für Gleichberechtigung einsetzt, oder zu Hause in der erkalteten Beziehung zu seiner Frau. Einziges Licht in seinem Leben ist die zwölfjährige Tochter Sarah, mit der er leidenschaftlich Schach spielt. Als Sarah ihr Sehvermögen verliert und eine erschütternde Diagnose folgt, flieht Zach in die Wüste New Mexicos. Dort geht er einem mysteriösen Hilferuf nach, auf den er in der Tasche seiner Secondhandjacke gestoßen ist.“ (Umschlagtext)

Irgendwie musste ich beim dem Umschlagtext er unwillkürlich an „Der menschliche Makel“ von Philip Roth denken. Dieser Roman von Everett biegt aber nach der Ausgangslage in eine andere Richtung ab. Verlust und Erlösung und Rettung – und die Wüste in New Mexico – also ich habe sofort Bilder im Kopf. 😊

Große Romane mag ich natürlich. Schauen wir mal, was dieser hier so hat. 😊

(Übersetzung: Nikolaus Stingl)

„Percival Everett erzählt ebenso mitreißend wie psychologisch feinsinnig von der Geschichte eines Vaters, dessen Welt plötzlich bis in die Grundfesten erschüttert wird. Ein großer amerikanischer Roman über Verlust und Erlösung, über die Zerbrechlichkeit von Beziehungen und Solidarität, vor allem aber über eine Frage, die uns alle betrifft: Kann jemand, wenn er einen anderen Menschen rettet, auch sich selbst retten?“ (Verlagstext)

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Montag, 11. November 2024

Richard Overy: Warum Krieg?


„Warum Krieg? Der Zeithistoriker Richard Overy, der sich ein Leben lang mit Krieg und Gewalt beschäftigt hat, führt uns in seiner großen Darstellung durch die Jahrtausende, von den frühen Konflikten zwischen Jägern und Sammlern bis zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts. Anhand vieler packender Beispiele und mit unterschiedlichen Erklärungsansätzen geht er der Frage nach, die die Gegenwart und Zukunft des Menschen bestimmt wie keine andere.“ (Umschlagtext)

Tja, warum tun sich Menschen gegenseitig grausame Dinge an. Mich überzeugt die biologistische Sichtweise, die alles mit Trieb erklären mag, so gar nicht. Immerhin zeigt die Geschichte der Menschheit immer wieder, dass es ihr wesentlich ist, sich auch anders entscheiden zu können.

Genau diese Möglichkeit, sich so oder anders entscheiden zu können, deutet ja eigentlich eher darauf hin, dass die Menschheit – wenn ich den Blick so weit aufmache – sich immer wieder entschieden hat, Entwicklungspfaden zu folgen, die eher zu Krieg führen als womöglich andere.

Wenn diese These stimmte, hätten wir auch heute, im Großen wie im Kleinen, immer wieder die Möglichkeit uns zu entscheiden. Schlage ich zu oder argumentiere ich? Rufe ich zu Hass und Gewalt auf oder deeskaliere ich? Wähle ich Hass oder Demokratie? Für all das braucht es sachliche wie emotionale Gründe, keine Frage.

Ich sach ma: Kultur und Bildung vielleicht stärken? Nur so als Idee. 😊

(Übersetzung: Henning Thies)

„Warum führen Menschen Krieg? Die Antworten auf diese Frage sind so vielfältig wie die Formen kriegerischer Konflikte selbst. Gehört Krieg zur menschlichen Natur, ist er Ausdruck eines aggressiven menschlichen Triebs? Wie hängt Krieg mit dem Wettbewerb um ökonomische Vorteile zusammen, wie verhält er sich zur Frage staatlicher Sicherheit? Was hat Krieg mit Religion und Ideologie zu tun, was mit dem Streben nach Macht oder mit den Veränderungen des Klimas?

Auf fesselnde Weise erkundet Richard Overy die Jahrtausende, von den Anfängen der Menschheit bis heute. Er rekonstruiert längst vergangene Konflikte zwischen Jägern und Sammlern, blickt zurück auf das Römische Imperium und seinen unersättlichen Hunger nach Ressourcen, führt uns mit Alexander dem Großen, Napoleon und Hitler die Auswirkungen politischen Machtwillens vor Augen und zeigt etwa anhand der aktuellen Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten, wie sich verschiedene Ursachen für Krieg überlagern und gegenseitig befeuern. Warum Krieg? Einer der bedeutendsten Historiker unserer Tage geht einer der wichtigsten Fragen überhaupt nach.“ (Klappentext)


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Sonntag, 10. November 2024

Steffen Mensching: Schermanns Augen


„Safranowka, ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta gelegen.“ (Seite 7)

Die letzten Romane, die mich in die Sowjetunion unter Stalin führten, waren von Christoph Hein „Trutz“ und „Metropol“ von Eugen Ruge. Tatsächlich kam und kommt mir auch dieses Thema immer wieder unter. Und es ist ja kein Wunder, dass diese zahllosen Geschichten von Menschen, die ins Räderwerk des Stalinismus gerieten, ob als glühende Kommunist:innen oder als einfache Menschen, die nur leben wollten, noch immer nicht auserzählt sind.

Nun also dieses Mammutwerk von Steffen Mensching – bei dem ich jede einzelne Seite großartig fand.

Rafael Schermann, den es tatsächlich gab, lebte als gefeierter Graphologe in der Zwischenkriegszeit und kannte sie offenbar alle, die großen Namen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft. Er tritt in die Geschichte dieses Romans ein als todkranker, alter, ausgemergelter Gefangener, bei dem nicht klar ist, wieso es ihn eigentlich in dieses unmenschliche und wahnwitzige Räderwerk des Lagersystems in der stalinistischen Sowjetunion verschlagen hat. Schermann landet in einem Nebenlager und verbringt seine Zeit zunächst in der Krankenstation.

Otto, ein junger Kommunist aus Deutschland, den es auf der Flucht vor den Nazis und von da in die Hände des sowjetischen Geheimdienstes gespült hat, drückt sich gerade vor der Arbeit in den Kolonnen, die täglich in den Wald ziehen, um dort unter Lebensgefahr Holz zu schlagen und zu verarbeiten. Da Schermann vorgibt, kein Russisch zu sprechen, hat Otto nun eine Aufgabe – für Schermann zu übersetzen.

Irgendetwas muss an diesem Neuen, an Rafael sein, dass selbst der Lagerkommandant die beiden immer wieder zum Verhör antreten lässt. Und langsam blättert sich in den Verhören und den Hinweisen aus Gesprächen das Leben des Rafael Schermann auf. Diese Begabung, aus Schriftschnipseln Schlüsse über die Schreibenden ziehen zu können. Damit begeisterte er zuvor europäische Geistesgrößen und fasziniert nun nicht nur den Kommandanten, sondern selbst den lagerinternen Mafiaboss.

In einer der vielen Besprechungen fand ich den interessanten Hinweis, welchen Stellenwert Schrift, das geschriebene und gedruckte Wort in dieser Welt einnehmen. Alle in dieser Welt scheinen auf die eine oder andere Art schriftgläubig zu sein. Hier diejenigen, die glauben wollen, aus wenigen handschriftlichen Worten mehr oder gar alles über die Schreibenden herausfinden zu können. Da diejenigen, deren Leben an wenigen Worten per Telegramm hängt. Oder auch diejenigen, die so sehr an nachgerade geheiligte Worte glauben wollen, dass sie ihr eigenes und das Wohl der Welt darin erblicken mögen.

Nicht zuletzt führt der, wie ich vermute, sehr penibel recherchierte Roman in eine unendlich unmenschliche Welt, in der der Einzelne gar nichts mehr zählt, Menschen zu Kakerlaken werden, Freundschaft und Zugewandtheit systemisch ausgemerzt werden – alles das, was das Grauen eines totalitären Regimes ausmacht.

Hütet euch vor Ideen, die zu einfach in Freund und Feind, schwarz und weiß einteilen – ließe sich darunterschreiben. Hütet euch und vor den einfachen, bequemen Wahrheiten und seht, was sie aus Menschen machen.

Menschings Verdienst ist es dabei für mich, einzelne Figuren bis ins Kleinste auszuzeichnen und greifbar werden zu lassen. Dabei bleibt jede einzelne der 820 Seiten lesbar und zwang mich förmlich noch eine und noch eine zu lesen. Für mich ein echtes Großwerk!

Kurz und gut: Sind doch nur 820 Seiten. Aber ehrlich – lesen! 😉

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