„Die Spelunke am Viktoriapark machte um neunzehn Uhr dicht.
Vincent fragte die Kellnerin, ob sie Familie habe, auf die sie sich freue. Die
Kellnerin verneinte, aber man komme in ihrem Beruf selten genug zu einem
ungestörten Fernsehabend.“ (Seite 9)
Zeit für ungestörte Fernsehabende hat in dem Buch aber ohnehin kaum
jemand. Nicht Vincent, der attraktive Escort, nicht Dr. Stern, der eine von
seiner Frau geduldete Affäre mit seiner Sekretärin pflegt, und die Punkclique,
die in einem Abrissbau lebt, schon gar nicht. Das ist aber auch nur ein wirklich
kleiner Ausschnitt aus all den Episoden des Buches.
Alle anderen lernen wir in zunächst unverbunden nebeneinanderstehenden
Episoden kennen, beginnend mit dem Weihnachtsabend von Vincent. Es folgt Szene
um Szene, die Berliner*innen vermutlich zur Genüge kennen. Es hat etwas von
„Berlin Tag und Nacht“. Irgendwie trashige Figuren, nur mit besseren Dialogen
und tatsächlich lebensechter Dramaturgie.
Es wird geliebt, gestritten, gevögelt, gepöbelt, gehasst und
wieder geliebt. Einsam sind nicht alle der Figuren, aber immer wieder auf sich
selbst zurückgeworfen. Das gilt für die Punks genauso wie für die Mittelstandsfamilie
und die Upper-Class-Unternehmerin. Sex, oder irgendetwas in der Art, firmiert
als Antrieb und endet allzu oft im Mitleid mit anderen, aber noch öfter mit
sich selbst.
Wie bei echtem Reality-TV gilt: Das ist wie ein Unfall. Es ist so
schrecklich, dass man permanent dazwischenrufen möchte, aber weggucken geht
auch nicht. Ich bin aber umgekehrt auch nicht so sicher, ob wir uns nicht alle
früher oder später genauso asozial, dumm, töricht und idiotisch verhalten wie
all diese Gestalten.
Gleichzeitig ist es natürlich witzig, in diesen Spiegel zu schauen
und sich köstlich zu amüsieren, während wir die Parallelen zu unserem eigenen
Leben geflissentlich übersehen. Krausser überlässt es uns, uns selbst in den
Figuren wiedererkennen zu wollen – oder eben nicht.
Dabei hilft der eher lakonische Erzählton, der nicht dramatisiert,
sich aber den einen oder anderen dezenten Hieb im Nebensatz erlaubt. Das
Schreien, Keifen, Giften, Betteln und Schmeicheln übernimmt schon das Personal
in den Dialogen.
Grandios finde ich, wie es Krausser gelingt zu zeigen, dass dieses
Großstadtmonster mit all den anonymen Leben eben doch nur eine Ansammlung von
Dörfern ist. Vielleicht liegt auch genau darin der Reiz, dass all wir
Zugezogenen Berlin nur spielen, tatsächlich aber aus unseren Dörfern nie
herausgekommen sind.
Kurz und gut: Krausser ist witzig und richtig, richtig böse. Aber
er liebt seine Figuren und wir auch. Lest mehr Krausser!
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