Mittwoch, 14. Februar 2018

Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid



„Die Spelunke am Viktoriapark machte um neunzehn Uhr dicht. Vincent fragte die Kellnerin, ob sie Familie habe, auf die sie sich freue. Die Kellnerin verneinte, aber man komme in ihrem Beruf selten genug zu einem ungestörten Fernsehabend.“ (Seite 9)

Zeit für ungestörte Fernsehabende hat in dem Buch aber ohnehin kaum jemand. Nicht Vincent, der attraktive Escort, nicht Dr. Stern, der eine von seiner Frau geduldete Affäre mit seiner Sekretärin pflegt, und die Punkclique, die in einem Abrissbau lebt, schon gar nicht. Das ist aber auch nur ein wirklich kleiner Ausschnitt aus all den Episoden des Buches.

Alle anderen lernen wir in zunächst unverbunden nebeneinanderstehenden Episoden kennen, beginnend mit dem Weihnachtsabend von Vincent. Es folgt Szene um Szene, die Berliner*innen vermutlich zur Genüge kennen. Es hat etwas von „Berlin Tag und Nacht“. Irgendwie trashige Figuren, nur mit besseren Dialogen und tatsächlich lebensechter Dramaturgie.

Es wird geliebt, gestritten, gevögelt, gepöbelt, gehasst und wieder geliebt. Einsam sind nicht alle der Figuren, aber immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Das gilt für die Punks genauso wie für die Mittelstandsfamilie und die Upper-Class-Unternehmerin. Sex, oder irgendetwas in der Art, firmiert als Antrieb und endet allzu oft im Mitleid mit anderen, aber noch öfter mit sich selbst.

Wie bei echtem Reality-TV gilt: Das ist wie ein Unfall. Es ist so schrecklich, dass man permanent dazwischenrufen möchte, aber weggucken geht auch nicht. Ich bin aber umgekehrt auch nicht so sicher, ob wir uns nicht alle früher oder später genauso asozial, dumm, töricht und idiotisch verhalten wie all diese Gestalten.

Gleichzeitig ist es natürlich witzig, in diesen Spiegel zu schauen und sich köstlich zu amüsieren, während wir die Parallelen zu unserem eigenen Leben geflissentlich übersehen. Krausser überlässt es uns, uns selbst in den Figuren wiedererkennen zu wollen – oder eben nicht.

Dabei hilft der eher lakonische Erzählton, der nicht dramatisiert, sich aber den einen oder anderen dezenten Hieb im Nebensatz erlaubt. Das Schreien, Keifen, Giften, Betteln und Schmeicheln übernimmt schon das Personal in den Dialogen.

Grandios finde ich, wie es Krausser gelingt zu zeigen, dass dieses Großstadtmonster mit all den anonymen Leben eben doch nur eine Ansammlung von Dörfern ist. Vielleicht liegt auch genau darin der Reiz, dass all wir Zugezogenen Berlin nur spielen, tatsächlich aber aus unseren Dörfern nie herausgekommen sind.

Kurz und gut: Krausser ist witzig und richtig, richtig böse. Aber er liebt seine Figuren und wir auch. Lest mehr Krausser!

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