„Der Opel Blitz kroch über die Mordgrundbrücke.
Die Reifen waren abgefahren.
Kupplung und Zwischengas hatte die Werkstatt instand gesetzt.
Rußschlieren überzogen das rote Kreuz.
Die verschlissenen Sitze quietschten.“ (Seite 7)
Der Zufall wollte es, dass ich „Wiesenstein“ aufschlug, kurz
nachdem ich die neue Comic-Adaption des Tagebuchs von Anne Frank (von Ari
Folman) gelesen hatte. Die Einträge Anne Franks vom Juni 1942 bis zum 01.
August 1944 wie auch die Umsetzung in Comic-Form gingen mir noch in ihrer Eindringlichkeit
und Intensität nach – wie auch die Frage, wie Menschen anderen Menschen derlei
nur antun konnten.
Schnitt.
In einem Sanatorium unweit des gerade durch Brandbomben verheerten
Dresdens residiert der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann mit seiner Frau
Margarete. Den 82jährigen plagt das Alter, die Lungen rasseln; seine Frau ist
halb blind. Es ist März im Jahr 1945. Der Krieg ist unwiederbringlich an seinen
Ursprung zurückgekehrt und walzt sich von Osten unaufhaltsam heran. Während
Dresden in Trümmern liegt und das Ende zum Greifen nah ist, wollen die
Hauptmanns nur noch eines – zurück auf ihr Anwesen im Riesengebirge, in
Schlesien – ins Haus „Wiesenstein“.
Dank seiner Prominenz, seines Rufes als Volksdichter und der
zunächst noch nebulösen Verquickung mit dem Naziregime gelangt das Ehepaar
zusammen mit ihrer Zofe und dem Masseur tatsächlich bis zu seinem prächtigen
Heim. Die Reise erlebt der greise Dichter nur als Schatten seiner selbst. Die
Ehefrau bangt, die Bediensteten nicht minder. Dass nur sein Ruhm sie alle
beschützen könne, zieht sich durch die geflüsterten Unterhaltungen, in denen
Hauptmanns Leben und Wirken lebendiger hindurch scheint als der betagte,
röchelnde Dichter noch wirkt, der da im Zug kauert.
Im „Wiesenstein“ angekommen, scheint die glorreiche, fast schon
vergangene Zeit noch einmal stillzustehen. Das Hauspersonal erledigt
dienstbeflissen seine Aufgaben, der Alte erholt sich langsam von den Strapazen
der Reise und beginnt wieder zu arbeiten. Sogar kleine gesellschaftliche
Zusammenkünfte gibt es ab und an im Haus, das zunächst noch von seinen Vorräten
zehren und Gäste aus der Nachbarschaft bewirten kann. Die wenigen, die noch in
diesem irgendwie toten Winkel des Krieges verblieben sind.
Natürlich bleibt es nicht so, und kann es auch nicht. Die Idylle
ist flüchtig, der Schein trügerisch. Risse tun sich auf, in Unterhaltungen, in
hereintröpfelnden Nachrichten von der Welt da draußen, in geflüsterten
Mutmaßungen was und wie denn alles sich entwickeln wird.
Die sehschwache Hausherrin verbittet sich Krieg und das Chaos um
sie herum als Themen bei Tisch; sie will nicht sehen und nicht wahrhaben.
Zugleich wird im Keller des Hauses, im ehemaligen Schwimmbecken, das Archiv des
Hausherrn sortiert, gesichtet, für die Reise in vermeintlich sicherere Reich
verpackt – und vorsorglich nach Be- und Entlastendem durchforstet. Die
Dienerschaft macht sich Kleine-Leute-Sorgen ums Überleben. Bei Tisch schwanken
die Gespräche immer mehr zwischen „es war doch nicht alles schlecht“, „wir
haben doch nur Befehle befolgt“, „wir haben versucht anständig zu bleiben“ und
der heraufziehenden Erkenntnis, wie sehr man sich dreingefügt hatte und es sich
wohlgehen ließ.
Immer skurriler wirkt das Ensemble, je mehr Einschränkungen auch
im „Wiesenstein“ spürbar werden. Vorräte werden knapper, Informationen darüber,
was um sie herum sich abspielt auch. Dass die ungeschminkte Kriegs- und
heraufziehende Nachkriegswirklichkeit immer wieder harsch an die massive
Haustür donnert, ist zunehmend weniger zu überhören und zu ignorieren –
wenigstens für diejenigen im Haus, die sich noch sorgen, um das Leben danach
und nicht nur ums reine Überleben.
Dem „Wiesensteiner“, wie Hauptmann hier auch genannt wird, ist es
in seinen lichten Momenten immer wieder darum, an seinem Werk zu feilen, zu
verbessern und – das schleicht sich immer weiter ein – am Bild von sich in
dieser Zeit. Warum ist er in Deutschland geblieben, wo andere gingen? Warum
empfing er Gauleiter, nahm Preise entgegen und ließ sich von den Schlächtern
hofieren? Reicht es aus, als Stimme der kleinen Leute und der doch auch großen
Kultur geblieben zu sein? Hatte er nicht sogar eindeutige Zeichen der Humanität
gen Russland gesendet, vor Jahren schon?
Dieses Ringen des großen Dichters um sein Erbe, seinen Ruf lesend
zu erleben ist mit all den Referenzen auf Gedichte und Tagebucheinträge im Text
eindringlich, erschütternd und eben alles andere als einfach zu bewerten. Auch
wenn mir mehr als einmal, immer noch Anne Frank vor Augen, in den Sinn kam: Wie
konnte er nur so blind sein und nicht sehen wollen, mit wem er sich einließ?
Glaubte er ernsthaft, er könne einen Unterschied machen, wo so unterschiedslos
gemordet wurde? Wie schwer wiegt in seinem Werk, dass er letztlich doch nur ein
Mensch war und so irrte, der Dichter-Heroe?
Am Ende bereiteten sich Hauptmanns darauf vor, zurückzukehren ins
Restdeutschland. Sein Ruf konnte gerade so sein Leben auch nach dem Einmarsch
der Sieger in sein Schlesien verschonen. Als er dann doch noch im Haus
„Wiesenstein“ am 06. Juni 1946 verstarb, blieb den Verbliebenen nicht mehr viel
Zeit, um das aus der Zeit gefallene Refugium zu verlassen. Die harte
historische Wirklichkeit holte sich auch das zurück.
Leicht hat es mir das Buch Pleschinskis nicht gemacht. Die Sprache
so schleppend und schwer auf der Zunge zuweilen. Kaum eine Figur, die ich
ehrlich sympathisch finden konnte. Soviel Ambivalenz und Hin- und
Hergerissensein zwischen Verständnis und irritierendem Ekel. Es ist, für mich
ganz unzweifelhaft, ein großes Buch. Es schenkt keine bequemen Einsichten und
fordert heraus. Und wo sich gerade wieder Kräfte aufmachen und etwas von
Volksgmeinschaft faseln und den bösen Fremden, und es müsse doch vorbei sein
mit dem „Schuldkult“ – da trifft so ein Werk ins Schwarze.
Kurz und gut: Kein Vergessen, kein Herumlavieren und es doch nicht
so gemeint haben! Lesen, weil wir uns dem immer und immer wieder stellen
müssen! Andernfalls ist jedes Beharren darauf, dass es doch auch so viel
Bedeutendes neben der Schande gäbe, blanker Zynismus.
Danke sei noch dem Verlag gesagt, für das Rezensionsexemplar.
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