„Einst gliederte man Chinas lange Geschichte in Dynastien, von
denen einige über Jahrhunderte hinweg Bestand hatten. In der neueren Geschichte
aber sind Dynastien zu Generationen geschrumpft, die in einem immer schnelleren
Rhythmus aufeinanderfolgen.“ (Vorwort von Pierre Haski, Seite 9)
Mitten hinein in diesen sich zunehmend überschlagenden
gesellschaftlichen Wandel wird Xiao Li in den Fünfzigerjahren als Sohn eines
kommunistischen Funktionärs geboren. Mit dem Makel behaftet, einer Familie von
Großgrundbesitzern zu entstammen, hatte dieser sich von seiner Familie
losgesagt und sein Leben der Revolution gewidmet.
In Xiao Lis jungem Leben ist Mao Zedong omnipräsent. Schon die
Kinder werden in der Schule vom revolutionären Furor erfasst. Um die
Stahlproduktion anzukurbeln ziehen die Knirpse los, jedes noch so kleine
Quäntchen Erz zu finden und krempeln dabei ihre Stadt um. Mit dem Aufkommen der
Roten Garden denunzieren sie ihre Lehrer, greifen tätlich jede Form von
Traditionalismus an und reißen sich schließlich auch mit gegenseitigen
Beschuldigungen ins Elend. So landet Xiao Lis Vater nach einer Denunziation für
Jahre im Umerziehungslager.
Gefangen im Strudel aus revolutionärem Eifer und gegenseitigen
Beschuldigungen bleibt offenbar nur der unbedingte Glaube an Mao und die Partei
als Rettungsanker, nach dem sich das Leben auszurichten hat. Selbst die der
Kulturrevolution folgende große Hungersnot kann diesen unbedingten Glauben
daran, das Richtige zu tun, nicht erschüttern. Die Nachricht vom Tod des Großen
Führers 1976 bricht dann auch wie eine Naturgewalt über die Menschen herein.
Xiao Li erlebt das als junger Soldat, fern von seiner Familie.
„Ein Leben in China“ erzählt vom Leben des Zeichners Li Kunwu, der
– wie auch die Figur Xiao Li später – unter anderem Propagandabilder malt. Die
Verlagsbeschreibung spricht davon, dass die Erzählung dicht am Leben vom Li
Kunwu entlang entwickelt wird. Insofern handelt es sich also nicht um eine
reine Autobiografie.
Beim Lesen musste ich immer mal wieder an meine Kindheit in der
DDR denken, an die Jahre als Jung- und Thälmannpionier. Frühe Ideologisierung
und Indoktrination empfinde ich nachträglich durchaus sehr viel deutlicher als
mir das damals bewusst gewesen ist. Im Vergleich zum China unter Mao Zedong
sorgte der relative Wohlstand in der späten DDR aber zumindest in dem Dorf, in
dem ich aufwuchs, für eine deutliche Abmilderung der Auswirkungen. Wenn wir
Timur und seinem Trupp nacheiferten und Rentner*innen in der Nachbarschaft die
Kohlen aus dem Keller in die Wohnung hinauftrugen, war das sicher weit entfernt
von dem inquisitorischen Gehabe der Roten Garde gegenüber den öffentlich
verächtlich gemachten, vorgeführten und erniedrigten Lehrern in Li Kunwus
Erinnerungen.
Wie wohl die meisten europäischen Leser*innen habe ich nur wenig
Vorstellung vom Leben im China unter Mao und der Allmacht der Kommunistischen
Partei dort. Die Schilderungen im Buch sind drastisch und regten mich immer
wieder dazu an, eigene Erinnerungen an das Leben im Realsozialismus zu
reaktivieren und dagegen zu halten. Allein das hätte die Lektüre schon gelohnt.
Aber auch zeichnerisch finde ich das Werk überzeugend. Die Figuren
wirken zumeist leicht überzogen und perspektivisch verzerrt, was sowohl
drastische Szenen verstärkt als auch die kleinen, leisen und nachdenklichen
Momente zur Geltung kommen lässt. Der Comic braucht keine langen textlichen Erklärungen,
weil die Bilder und Dialoge alles Wichtige zeigen und sagen. Hier wird nicht
belehrt, nicht pathetisch überhöht, sondern ein Leben erzählt und gezeigt.
Ich freue mich auf die Bände zwei und drei, die vom Leben in China
nach dem Tod Mao Zedongs erzählen und wie sich die Gesellschaft im Zeichen
kommunistischer Marktwirtschaft entwickelt.
Kurz und gut: Unbedingte Empfehlung, auch weil nicht extra
„Graphic Novel“ auf das Cover gedruckt wurde. Danke, Edition Moderne! ;)
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