Sonntag, 4. März 2018

Philippe Ôtié/ Li Kunwu: Ein Leben in China. Band 1: Die Zeit meines Vaters



„Einst gliederte man Chinas lange Geschichte in Dynastien, von denen einige über Jahrhunderte hinweg Bestand hatten. In der neueren Geschichte aber sind Dynastien zu Generationen geschrumpft, die in einem immer schnelleren Rhythmus aufeinanderfolgen.“ (Vorwort von Pierre Haski, Seite 9)

Mitten hinein in diesen sich zunehmend überschlagenden gesellschaftlichen Wandel wird Xiao Li in den Fünfzigerjahren als Sohn eines kommunistischen Funktionärs geboren. Mit dem Makel behaftet, einer Familie von Großgrundbesitzern zu entstammen, hatte dieser sich von seiner Familie losgesagt und sein Leben der Revolution gewidmet.

In Xiao Lis jungem Leben ist Mao Zedong omnipräsent. Schon die Kinder werden in der Schule vom revolutionären Furor erfasst. Um die Stahlproduktion anzukurbeln ziehen die Knirpse los, jedes noch so kleine Quäntchen Erz zu finden und krempeln dabei ihre Stadt um. Mit dem Aufkommen der Roten Garden denunzieren sie ihre Lehrer, greifen tätlich jede Form von Traditionalismus an und reißen sich schließlich auch mit gegenseitigen Beschuldigungen ins Elend. So landet Xiao Lis Vater nach einer Denunziation für Jahre im Umerziehungslager.

Gefangen im Strudel aus revolutionärem Eifer und gegenseitigen Beschuldigungen bleibt offenbar nur der unbedingte Glaube an Mao und die Partei als Rettungsanker, nach dem sich das Leben auszurichten hat. Selbst die der Kulturrevolution folgende große Hungersnot kann diesen unbedingten Glauben daran, das Richtige zu tun, nicht erschüttern. Die Nachricht vom Tod des Großen Führers 1976 bricht dann auch wie eine Naturgewalt über die Menschen herein. Xiao Li erlebt das als junger Soldat, fern von seiner Familie.

„Ein Leben in China“ erzählt vom Leben des Zeichners Li Kunwu, der – wie auch die Figur Xiao Li später – unter anderem Propagandabilder malt. Die Verlagsbeschreibung spricht davon, dass die Erzählung dicht am Leben vom Li Kunwu entlang entwickelt wird. Insofern handelt es sich also nicht um eine reine Autobiografie.

Beim Lesen musste ich immer mal wieder an meine Kindheit in der DDR denken, an die Jahre als Jung- und Thälmannpionier. Frühe Ideologisierung und Indoktrination empfinde ich nachträglich durchaus sehr viel deutlicher als mir das damals bewusst gewesen ist. Im Vergleich zum China unter Mao Zedong sorgte der relative Wohlstand in der späten DDR aber zumindest in dem Dorf, in dem ich aufwuchs, für eine deutliche Abmilderung der Auswirkungen. Wenn wir Timur und seinem Trupp nacheiferten und Rentner*innen in der Nachbarschaft die Kohlen aus dem Keller in die Wohnung hinauftrugen, war das sicher weit entfernt von dem inquisitorischen Gehabe der Roten Garde gegenüber den öffentlich verächtlich gemachten, vorgeführten und erniedrigten Lehrern in Li Kunwus Erinnerungen.

Wie wohl die meisten europäischen Leser*innen habe ich nur wenig Vorstellung vom Leben im China unter Mao und der Allmacht der Kommunistischen Partei dort. Die Schilderungen im Buch sind drastisch und regten mich immer wieder dazu an, eigene Erinnerungen an das Leben im Realsozialismus zu reaktivieren und dagegen zu halten. Allein das hätte die Lektüre schon gelohnt.

Aber auch zeichnerisch finde ich das Werk überzeugend. Die Figuren wirken zumeist leicht überzogen und perspektivisch verzerrt, was sowohl drastische Szenen verstärkt als auch die kleinen, leisen und nachdenklichen Momente zur Geltung kommen lässt. Der Comic braucht keine langen textlichen Erklärungen, weil die Bilder und Dialoge alles Wichtige zeigen und sagen. Hier wird nicht belehrt, nicht pathetisch überhöht, sondern ein Leben erzählt und gezeigt.

Ich freue mich auf die Bände zwei und drei, die vom Leben in China nach dem Tod Mao Zedongs erzählen und wie sich die Gesellschaft im Zeichen kommunistischer Marktwirtschaft entwickelt.

Kurz und gut: Unbedingte Empfehlung, auch weil nicht extra „Graphic Novel“ auf das Cover gedruckt wurde. Danke, Edition Moderne! ;)

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