„Dreimal neun ist Donnerstag, und der 18. Juli des Jahres 1816 war
ein herrlicher Donnerstag.“ (Seite 7)
Geschichten, in denen Menschen gezwungen sind, sich ihren eigenen
Grenzen zu stellen und weit darüber hinaus zu gehen, sind schon lange ein
faszinierender Stoff. Wenn aus dem individuellen Drama auch gleich noch ein
soziales wird, weil ganzen Gemeinschaften die zivilisatorische Fassade
zerbröckelt, dann kuscheln wir uns als Zuschauer*innen und Leser*innen gleich
noch mal so gänsehäutig in den Sessel.
Endzeitszenarien bieten sich für solche Geschichten natürlich
unbedingt an. Die Welt, wie wir sie kennen, geht unter oder ist schon längst
verschwunden. Was bleibt von all unseren Fortschritten, von unserem aufgeklärten
und gesitteten Miteinander, wenn es nur noch ums nackte Überleben geht? Oder
braucht es manchmal nicht auch nicht einmal den Tod vor Augen, um uns
zurückzuwerfen aufs rein Animalische? Ok ok, so leicht ich hier Gefahr laufe,
mich im Kitschig-Pathetischen zu verlieren – so leicht sind wir modernen
Menschen in der so sehr zivilisierten Welt offenbar für solche Stoffe
empfänglich. Gemessen an der Vielzahl erfolgreicher Serien, Filme, Romane,
Comics … - die genau das bedienen. Die Lust, uns als zivilisierte Wesen scheitern
zu sehen.
Eine Unterkategorie von derlei Stoffen sind historisch belegte
Geschichten, die schon in der Vergangenheit bezeugten, wie wenig es manchmal
braucht zum Scheitern.
Eine solche bietet Franzobel dar in diesem, ich sag es gleich mal
vorweg und ohne Schwafel, in diesem großartigen Roman. Eben just an diesem 18.
Juli 1816 endet vorläufig das zweiwöchige Martyrium von 15 Menschen. Sie trieben
auf einem Floss, nackt, kaum mehr als Haut und Knochen, eher tot als lebendig. Nicht
alle überlebten ihre Rettung vor der Westküste Afrikas.
Franzobels Schilderung setzt mit der Rettung der Schiffbrüchigen von
dem Floss ein, führt aber alsbald und mit erzählerischem Schwung zurück zum Aufbruch
der Medusa (noch als ganzes und heiles Schiff) aus ihrem französischen
Heimathafen. Das Ziel der kleinen Flottille, die von der Medusa angeführt wird,
ist Afrika. Keine aufregende Reise eigentlich. Eigentlich!
So ein Schiff als abgeschlossener Raum, aus dem es auf dem Meer
auch kein Entrinnen gibt, ist natürlich ein Laboratorium, dass sich Schriftsteller*innen
kaum besser ausdenken können. Und so gibt die Besatzung genau die Mischung her,
die eine richtige Katastrophe braucht. Zum eitlen und entscheidungsschwachen
Kapitän gesellt sich ein inkompetenter aber eloquenter, hochstapelnder Berater.
Zwischen Ego, Ehrgeiz und Gehorsam hin und her gerissene Offiziere stehen einer
Mannschaft vor, die aus raubeinigen Gesellen besteht, Ganoven auch. Auch nervige
und nervende Passagiere dürfen nicht fehlen, wie der künftige aber ignorante
Gouverneur der anzusteuernden Kolonie nebst hysterisch-hohler Gattin, überforderte
Viel-Kinder-Familien, ein unheimlich emotionsloser Schiffsarzt, monströses
Küchenpersonal – ach, alles ist beisammen.
Ich will gar nicht zu viel verraten, vielleicht nur das Offensichtliche:
Die Medusa sinkt. Und 147 Menschen finden keinen Platz mehr auf den zu wenigen
Rettungsboten und werden auf einem Floss zurückgelassen. Was sich auf dem Floss
in 13 Tagen abspielt und dafür sorgt, dass gerade noch 15 zum Retten übrigbleiben,
ist ebenso grausam-guselig-spannend wie die Rettung der Glücklichen aus den
Booten.
Und Franzobel tut wirklich alles dafür, dass ich wenigstens nicht
anders konnte als mit nachdenklichem Gesicht aber eben doch fasziniert diesem hypnotisierenden
Trauer- und Schauerspiel zuzuschauen. Am Ende bin ich gar nicht sicher, ob das
Überleben wirklich ein Geschenk für diejenigen war, die es zurück an Land
schafften.
Ein Geschenk ist aber für meinen Geschmack dieser grandios
erzählte Roman. Franzobel schafft es, genau die richtige Distanz zu wahren, die
Ironie, Sarkasmus auch, aber eben auch unbedingt Empathie ermöglicht.
Sensationsgier kommt da nicht auf.
Kurz und gut: Mein erster Franzobel lässt mich begeistert zurück.
Von dem will ich mehr lesen!
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