Dienstag, 26. Februar 2019

Franzobel: Das Floss der Medusa. Roman nach einer wahren Begebenheit



„Dreimal neun ist Donnerstag, und der 18. Juli des Jahres 1816 war ein herrlicher Donnerstag.“ (Seite 7)

Geschichten, in denen Menschen gezwungen sind, sich ihren eigenen Grenzen zu stellen und weit darüber hinaus zu gehen, sind schon lange ein faszinierender Stoff. Wenn aus dem individuellen Drama auch gleich noch ein soziales wird, weil ganzen Gemeinschaften die zivilisatorische Fassade zerbröckelt, dann kuscheln wir uns als Zuschauer*innen und Leser*innen gleich noch mal so gänsehäutig in den Sessel.

Endzeitszenarien bieten sich für solche Geschichten natürlich unbedingt an. Die Welt, wie wir sie kennen, geht unter oder ist schon längst verschwunden. Was bleibt von all unseren Fortschritten, von unserem aufgeklärten und gesitteten Miteinander, wenn es nur noch ums nackte Überleben geht? Oder braucht es manchmal nicht auch nicht einmal den Tod vor Augen, um uns zurückzuwerfen aufs rein Animalische? Ok ok, so leicht ich hier Gefahr laufe, mich im Kitschig-Pathetischen zu verlieren – so leicht sind wir modernen Menschen in der so sehr zivilisierten Welt offenbar für solche Stoffe empfänglich. Gemessen an der Vielzahl erfolgreicher Serien, Filme, Romane, Comics … - die genau das bedienen. Die Lust, uns als zivilisierte Wesen scheitern zu sehen.

Eine Unterkategorie von derlei Stoffen sind historisch belegte Geschichten, die schon in der Vergangenheit bezeugten, wie wenig es manchmal braucht zum Scheitern.

Eine solche bietet Franzobel dar in diesem, ich sag es gleich mal vorweg und ohne Schwafel, in diesem großartigen Roman. Eben just an diesem 18. Juli 1816 endet vorläufig das zweiwöchige Martyrium von 15 Menschen. Sie trieben auf einem Floss, nackt, kaum mehr als Haut und Knochen, eher tot als lebendig. Nicht alle überlebten ihre Rettung vor der Westküste Afrikas.

Franzobels Schilderung setzt mit der Rettung der Schiffbrüchigen von dem Floss ein, führt aber alsbald und mit erzählerischem Schwung zurück zum Aufbruch der Medusa (noch als ganzes und heiles Schiff) aus ihrem französischen Heimathafen. Das Ziel der kleinen Flottille, die von der Medusa angeführt wird, ist Afrika. Keine aufregende Reise eigentlich. Eigentlich!

So ein Schiff als abgeschlossener Raum, aus dem es auf dem Meer auch kein Entrinnen gibt, ist natürlich ein Laboratorium, dass sich Schriftsteller*innen kaum besser ausdenken können. Und so gibt die Besatzung genau die Mischung her, die eine richtige Katastrophe braucht. Zum eitlen und entscheidungsschwachen Kapitän gesellt sich ein inkompetenter aber eloquenter, hochstapelnder Berater. Zwischen Ego, Ehrgeiz und Gehorsam hin und her gerissene Offiziere stehen einer Mannschaft vor, die aus raubeinigen Gesellen besteht, Ganoven auch. Auch nervige und nervende Passagiere dürfen nicht fehlen, wie der künftige aber ignorante Gouverneur der anzusteuernden Kolonie nebst hysterisch-hohler Gattin, überforderte Viel-Kinder-Familien, ein unheimlich emotionsloser Schiffsarzt, monströses Küchenpersonal – ach, alles ist beisammen.

Ich will gar nicht zu viel verraten, vielleicht nur das Offensichtliche: Die Medusa sinkt. Und 147 Menschen finden keinen Platz mehr auf den zu wenigen Rettungsboten und werden auf einem Floss zurückgelassen. Was sich auf dem Floss in 13 Tagen abspielt und dafür sorgt, dass gerade noch 15 zum Retten übrigbleiben, ist ebenso grausam-guselig-spannend wie die Rettung der Glücklichen aus den Booten.

Und Franzobel tut wirklich alles dafür, dass ich wenigstens nicht anders konnte als mit nachdenklichem Gesicht aber eben doch fasziniert diesem hypnotisierenden Trauer- und Schauerspiel zuzuschauen. Am Ende bin ich gar nicht sicher, ob das Überleben wirklich ein Geschenk für diejenigen war, die es zurück an Land schafften.

Ein Geschenk ist aber für meinen Geschmack dieser grandios erzählte Roman. Franzobel schafft es, genau die richtige Distanz zu wahren, die Ironie, Sarkasmus auch, aber eben auch unbedingt Empathie ermöglicht. Sensationsgier kommt da nicht auf.

Kurz und gut: Mein erster Franzobel lässt mich begeistert zurück. Von dem will ich mehr lesen!

#lesewinter #roman #franzobel #zsolnay #schiffbruch #zivilisation #untergang #menschen #lesen #bücher #leselust #lesenswert #literatur

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen