Dienstag, 24. März 2020

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck



Das Jahrtausend
Begann lausig.
Es gab keinen Computerbug.
Es gab keine verdammte Katastrophe.“ (Seite 5)

Dystopische Beschreibungen der nahen Zukunft sind ja seit Jahren in Mode. Die Zutaten der verschiedenen Fiktionen variieren: Außerirdische, Naturkatastrophen, Kriege, autoritäre Systeme – staatlich, technologisch … Die Liste ließe sich sicher noch eine ganze Weile fortsetzen. Oh, Viren als eine Zutat will ich auf jeden Fall nicht unerwähnt lassen. Quasi aus aktuellem Anlass. Immerhin hatte ich Sibylle Bergs Dystopie „GRM“ schon ausgelesen, bevor Covid-19 anfing, unser Leben zu bestimmen.

Als erstes muss ich einräumen, dass ich die Handlung dieses Romans nicht wirklich zusammenfassend nacherzählen kann. Das liegt unter anderem am Erzählstil, der all die verschiedenen Geschichten und Erzählstränge fließend ineinander übergehen lässt. Schier rastlos ziehen die auftretenden Figuren wie auf einer Bühne von links nach rechts in einer atemlosen Prozession vorbei. Einige stellen sich hinter dem Vorhang gleich wieder an und reihen sich erneut ein. Andere verschwinden so unvermittelt, wie sie aufgetreten sind. Daraus ergibt sich ein Sog, der es mir zumindest schwer machte, das Buch dann auch mal wieder zur Seite zu legen.

Wie viele andere Autor*innen auch braucht Sibylle Berg keine abgefahren, heute noch gar nicht denkbaren Zutaten für ihre Beschreibung eines Großbritanniens in einer nahen Zukunft. Der Brexit liegt offenbar noch nicht so weit zurück und bietet in seinen Auswirkungen auf die Entwicklungen im Land eine erste Zutat. Ein entfesselter Kapitalismus sorgt für immer weitergehende Privatisierungen noch bis in den letzten Zipfel der immer weiter gespaltenen Gesellschaft. Ganze Landstriche, Städte und auch Viertel von London sind abgehängt und schon längst aufgegeben. Niemanden interessiert, was dort passiert, was dort mit den Menschen passiert.

Digitalisierung steht in dieser Version nicht nur für technologischen Fortschritt sondern auch für Benebelung noch des letzten freien Geistes, Verstümmelung jeder Form von Kreativität und, natürlich, immer totalere Überwachung. So können ganze Teile der Bevölkerung quasi hypnotisiert und kontrolliert werden. Das gilt für die ganz Unten ebenso wie für die, die sich noch an die hübsche Mär von der Mittelschicht klammern und glauben, sich selbst damit zu beschreiben. Nachdem ihnen die Angst vor den bösen Flüchtlingen mangels eben derselben ausgeht, gedeiht der Hass auf die einheimischen Außenseiter, Faulpelze, Parasiten ganz vortrefflich.

Und natürlich gibt es auch noch die, die das Land regieren oder glauben, das zu können. Die so viel besitzen, dass etwas anderes als Mehr gar nicht mehr denkbar ist. Sie glauben, all die Überwachung und technologisch basierte Manipulation würde ihnen wirklich die totale Kontrolle geben. Aber irgendwo gibt es immer einen Nerd, der sich ins Fäustchen lacht und an einer noch perfideren App bastelt. So gerät selbst die Einführung des heute als progressiv diskutierten bedingungslosen Grundeinkommens zu einer noch ausufernderen Form der Überwachung und sozialen Steuerung.

Puh, echt trostlos, diese Welt, die Frau Berg da in tristen Farben zeichnet. Und die Geschichten der Figuren machen es nicht fröhlicher. Jede noch so kleine Hoffnung, die in den Figuren oder bei den Leser*innen aufkommen kann, findet jemanden, der oder die Dummes, Eigennütziges, Perfides tut.

Trotzdem, und das rechne ich dem Roman hoch an, mochte ich mich beim Lesen nicht entsetzt abwenden. Berg schreibt schonungslos, drastisch – und lässt tragenden Figuren doch Raum genug – auch zum Scheitern. Obwohl einfach alles zum Scheitern verurteilt ist und hier nichts, aber auch so gar nichts gut wird, geht das Leben weiter. Dass es weitergeht, lässt aber auch die Möglichkeit zu, dass das Ende des Romans nicht auch das Ende der Geschichte sein muss.

Als Leser freue mich ja riesig, wenn ich mal wieder eine*n Autor*in entdecke, und mich wundere, dass ich sie oder ihn bisher so komplett übersehen habe. Sibylle Berg ist so eine Autorin. So ganz experimentelles Schreiben ist meine Sache nicht. Dieser Roman machte mir das mal wieder deutlich, blieb aber für mich noch zugänglich genug.

Was ich an Büchern immer wieder bewundere ist, wenn man sich jenseits der Buchdeckel die Augen reibt und verwundert fragt, ob die Realität sich gerade anschickt, sich der Geschichte anzupassen, die man gerade liest. Sibylle Berg schafft das hier spielend.

Kurz und gut: Komprimierte Trostlosigkeit, Brainfuck und saugut geschrieben – ich freu mich über meine Entdeckung von Sibylle Berg! ;)

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